Ambulant vor stationär. Der erste Schritt zur Rationierung.

Tribüne
Ausgabe
2017/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05392
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(08):258

Affiliations
Dr. med., Präsident der fmCh – Dachorganisation der chirurgisch und invasiv tätigen Ärztinnen und Ärzte der Schweiz

Publiziert am 22.02.2017

Am 13.1.2017 gab der Luzerner Gesundheitsdirektor ­Regierungsrat Guido Graf der Öffentlichkeit eine Liste der ab Sommer 2017 zwingend ambulant durchzuführenden Eingriffe bekannt.
Es gab zwar grossen Applaus in den Medien, aber wie immer in der Gesundheitspolitik werden einmal mehr nicht die eigentlichen Fehler beseitigt, sondern neue geschaffen.
Fehler Nr. 1: Per Gesetz bezahlen die Krankenkassen für stationäre Behandlungen 45% der Kosten, 55% zahlen die Kantone. Ambulant bezahlen die Krankenkassen 100% der Leistungen.
Ob ambulant oder stationär, die hohen Kosten für Operation, Anästhesie, Überwachung etc. bleiben gleich. Da die Krankenkassen bei ambulanten Operationen den vollen Betrag bezahlen müssen, werden die Prämien nicht sinken, eher sogar steigen. Im nächsten Herbst wird wieder über den Anstieg der Kosten im ambulanten Sektor geklagt und die Schuld der Ärzteschaft in die Schuhe geschoben.
Die Aktion «ambulant vor stationär» dient hauptsächlich der Entlastung der Kantonsfinanzen im Rahmen der derzeitigen Sparrunde. Sie beseitigt den Unsinn der dual-fixen Spitalfinanzierung nicht.
Fehler Nr. 2: «Am Morgen operieren – am Abend zu Hause» wird als Patientennutzen propagiert. Die Rea­lität sieht anders aus. Nur die wenigsten wollen das. Lieber noch einen Tag länger im Spital bleiben, da man sich für den Austritt noch nicht fit fühlt, abgelegen wohnt, die häusliche Versorgung im Einzelhaushalt nicht gewährleistet ist oder die Tochter erst übermorgen Zeit für den Heimtransport hat.
Auch ein Blick ins Ausland zeigt: «Ambulant» ist nicht gleich ambulant. Im LDS Hospital, der Uniklinik von Salt Lake City, werden schon seit Jahren Kreuzband-Operationen «ambulant» im benachbarten Intermountain Medical Center durchgeführt. Die Patienten werden nach dem Eingriff im angegliederten Hotel mit voller Notruf-Einrichtung untergebracht, wo sie zwei bis drei Nächte weilen und von Nurses betreut werden. In Holland werden die ambulanten Patienten noch am gleichen Tag von Spitex-Pflegenden besucht, zu Bett gebracht und in den nächsten Tagen mehrmals täglich besucht. Dies alles sicher nicht gratis.
Fehler Nr. 3: Im ambulanten Bereich gibt es (bis jetzt) keine Zusatzversicherte. Spitäler und Ärzte waren ­bisher an ambulanten Operationen wenig interessiert. Die Liste «ambulant vor stationär» führt schlagartig 
zu Verlusten wie bei der Exportindustrie durch den Frankenschock. Ein Aufschrei bleibt im Gesundheitswesen aus. Die Belegärzte und Privatkliniken tragen als freie Unternehmen das Risiko irgendwie selber und machen die Faust im Sack. Die öffentlichen Spitäler wälzen die Einbussen auf die Allgemeinheit ab. Ent­weder steigen die Defizite oder es sinken die Gewinne, die dem öffentlichen Haushalt abgeliefert werden müssen (wie letztes Jahr das Luzerner Kantonsspital LUKS).
Fehler Nr. 4: Ob eine Patientin oder ein Patient ins Spital muss oder nicht, ist an sich ein medizinischer Entscheid. Die Verantwortung und Haftung tragen die Ärztinnen und Ärzte. Die Forderung nach ganzheit­licher Betrachtung und nach Berücksichtigung der ­sozialen Umstände (Patienten auf dem Land, ältere Menschen etc.) gilt mit der regierungsrätlichen Liste plötzlich nicht mehr.
Nach Einführung der Liste muss zukünftig für jeden medizinisch oder pflegerisch notwendigen Spitalaufenthalt ein Gesuch geschrieben werden. Ein erneuter Anstieg der Bürokratie – auf dem Buckel der Ärzteschaft und der Spitäler.
Fehler Nr. 5: Die Liste hat Regierungsrat Guido Graf ohne Mitwirkung der Ärzteschaft erstellt. Das ist auch richtig so. Denn es handelt sich um Rationierung. Den Patientinnen und Patienten wird aus finanziellen Gründen etwas vorenthalten. Rationierung gehört nicht in die Kompetenz der Ärzteschaft. Rationierung ist ein politischer Entscheid. Mit diesem Schritt zur ­Rationierung hat Regierungsrat Graf ein Tabu gebrochen.
Dr. med. Josef E. Brandenberg
Präsident der fmCh
josef.brandenberg[at]hin.ch