Ein Blick von jenseits des Atlantiks auf eine ethische und praxisbezogene Thematik

Jugendliche: Urteilsfähigkeit und/vs. Entscheidungskompetenz

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05446
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(11):356

Affiliations
Dr. med., ehemaliger Kantonsarzt

Publiziert am 15.03.2017

Die Frage, inwieweit Jugendliche unabhängig von ihren gesetzlichen Vertretern Entscheidungen in Bezug auf Gesundheitsleistungen treffen können, ist ein Klassiker in der Medizinethik. In den letzten Jahrzehnten wurde der Schwerpunkt auf die mit zunehmendem Alter wachsende Urteilsfähigkeit und die Entscheidungskompetenz gelegt (dabei ist unbestritten, dass die Meinung des Kindes, auch des sehr kleinen, aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen ist). In der Schweiz gilt das Recht auf den Empfang (oder die Ablehnung) der medizinischen Gesundheitsleistungen als höchstpersönliches Recht, das der urteilsfähige Minderjährige frei ausüben kann, auch ohne Wissen oder gegen die Meinung der Eltern. Zu den sensiblen Fragen zählen beispielsweise die Verhütung oder der Schwangerschaftsabbruch; dabei variieren die Antworten je nach Land, bzw. in der Schweiz je nach Kanton.1 U.a. stellen sich auch Fragen im Zusammenhang mit Organspenden von minderjährigen Lebendspendern und in Bezug auf Sterbehilfe. In Belgien wurde 2016 zugelassen, dass 
ein Minderjähriger diesen Schritt rechtmässig gehen konnte (inkl. Euthanasie).
Dieses Thema scheint bei uns heute nicht problematisch. Interessant ist in diesem Kontext allerdings ein ausführlicher Artikel [1] im letzten Hastings Center Report von 
E. K. Salter, Ethikprofessorin an der Universität von St. Louis (USA), die argumentiert, dass die Entscheidung den gesetzlichen Vertretern vorbehalten bleiben sollte. Salter merkt an, dass die wissenschaftliche Evidenz unpräzise ist: «Da dieselben psychologischen und neurologischen Daten zum Nachweis gegensätzlicher Schlussfolgerungen herangezogen wurden, erscheint es ratsam, deren Aussage zur Qualität einer jugendlichen Entscheidungnahme noch nicht abschliessend zu beurteilen.»
Gelegentlich sind ihre Darstellungen vereinfacht: «Ein Zehnjähriger mag darüber entscheiden können, ob er ein Medikament in einer oder in mehreren Gaben einnimmt, aber er kann nicht kompetent entscheiden, ob sein von Wundbrand befallenes Bein amputiert werden muss» ... Dies erinnert mich an ein Beispiel, das ich in Vorlesungen gab: Im Prinzip kann/muss der Arzt dem Wunsch nach Verhütung einer Fünfzehnjährigen entsprechen (und dabei die ärztliche Schweigepflicht wahren – auch gegenüber den Eltern). Er wird ihrem Wunsch jedoch nicht so entsprechen, wenn sie von ihm verlangt, sie zu sterilisieren, «weil es in der Welt nicht gut läuft und sie niemals Kinder haben will» … Der (juristische und ethische) Grundsatz spricht «für» die betroffene Jugendliche, doch der Arzt soll die jeweilige Situation auch einschätzen.2
«Gemeinsam mit anderen bin ich der Ansicht», so Salter, «dass Eltern auch gegenüber Jugendlichen die Entscheidungskompetenz bewahren müssten. Ich sage dies nicht, weil ich glauben würde, die Mehrzahl der Jugendlichen hätte nicht die gewünschte Urteilsfähigkeit, sondern weil ich meine, dass die Entscheidungsfähigkeit ­eines Jugendlichen per se nicht rechtfertigt, dass ihm die entsprechende Kompetenz dazu gegeben werden muss. Wenn wir die Fähigkeit, etwas zu tun, vermischen mit der Kompetenz dazu, dann lassen wir einen zentralen Punkt ausser Acht: Eltern tragen die moralische und die gesetzliche Verantwortung für ihre Kinder.» Und weiter: «Die Wissenschaft mag aufzeigen, dass einige Jugend­liche ihre Entscheidungen genauso kompetent treffen wie die zuständigen Erwachsenen, doch die Frage, ob ­Jugendlichen die Entscheidungskompetenz zugebilligt wird, ist eine ethische und lässt sich nicht allein auf wissenschaftliche Evidenz reduzieren.»
Hier besteht ein soziokultureller Unterschied. Die US-Gesellschaft und ihre Werte haben eine deutlich legalistische Anmutung. Ausserdem ist zu beobachten, dass jene, die traditionell über die Autorität verfügten, diese jetzt erneut anstreben. Salter spricht von der Familie als «heilige» Grundfeste der Gesellschaft. In der Schweiz und in Europa – vor allem in Nordeuropa – herrscht eine andere Einschätzung der jeweiligen Interessen und Rechte. Ich denke, wir sind mit den im Schweizer Zivil­gesetzbuch spezifizierten Vorgaben zum frei ausgeübten höchstpersönlichen Recht des Jugendlichen und den geltenden ethischen Grundsätzen besser bedient als mit ­einem unflexiblen Regelwerk. Interessanterweise basiert das von E. K. Salter geforderte (aber nicht unbedingt repräsentativ für die USA) routinemässige Fortbestehen der elterlichen Autorität auf Komponenten wie dem chronologischen Alter und der Volljährigkeit, Komponenten, die in sich selbst rigide sind, während sie im Übrigen auf den ethischen Charakter der Problematik hinweist. Ein gewisser Widerspruch, oder?