Austausch medizinischer Informationen bei Personen-Rückführungen

FMH
Ausgabe
2017/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05545
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(14):426–428

Affiliations
a Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortliche Digitalisierung/eHealth; b lic. iur., MAE, stv. Generalsekretärin SAMW;
c Prof. Dr. med., Vize-Präsident Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte

Publiziert am 05.04.2017

FMH, SAMW und die Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte KSG unterstützen die klare Aufgabentrennung zwischen dem behandelnden und dem die Rückführung begleitenden Arzt. Mit neuen Formularen wird diese Forderung umgesetzt: Dem behandelnden Arzt stehen ein strukturierter ärztlicher Bericht sowie eine Kontraindikationsliste für Flugreisen zur Verfügung. Basierend auf seiner Beurteilung – und sofern die betroffene Person den Arzt vom Berufsgeheimnis entbindet – teilt er dem für die Rückführung verantwortlichen Arzt mit, ob gesundheitliche Probleme vorliegen. Die Beurteilung der Transporttauglichkeit ist Aufgabe des Arztes, der für die medizinische Betreuung im Rahmen der Rückführung die Verantwortung trägt.
2010 kam es im Rahmen einer Zwangsrückführung in der Schweiz zu einem tragischen Todesfall. Seither stellt das Staatssekretariat für Migration sicher, dass Fachärzte1 und Gesundheitsfachpersonen die zwangsweisen Rückführungen auf Sonderflügen und wenn nötig auf Linienflügen begleiten. Allerdings fehlte eine klare Definition der Aufgaben und Verantwortlichkeiten aller Akteure. 2013 veröffentlichte die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der SAMW deshalb eine Stellungnahme zu den medizinischen Aspekten bei zwangsweisen Rückführungen und forderte einen Systemwechsel (Abkehr vom «fit to fly»). Anlass zur Kritik gab der Druck auf Ärzte, eine medizinische Beurteilung der Transportfähigkeit vorzunehmen, und der dabei ungenügende Informationsfluss zwischen den einzelnen Akteuren. Vor diesem Hintergrund initiierte Bundesrätin Sommaruga 2013 einen Dialog zwischen Behördenvertretern, Mitgliedern der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter und Vertretern der Ärzteschaft.
Am Dialog beteiligt waren von ärztlicher Seite FMH, SAMW und die Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte KSG. Im September 2014 verabschiedete die Plenarversammlung des Dialogs zu den medizinischen Fragen im Bereich des Wegweisungsvollzugs einen Bericht2, in  dem sie ihre Analyse darlegte und das weitere Vor­gehen beschloss. Der ärztliche Dialog forderte die Umsetzung von zwei Kernanliegen:
1. Die Rolle des behandelnden Arztes vor der Rückführung muss klar getrennt werden von der Rolle des Arztes, der die Transportfähigkeit beurteilt.
2. Die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidung mit Wahrung des Berufsgeheimnisses ist zentral für das Vertrauensverhältnis zum Patienten. Sie ist Voraussetzung für die Verbesserung des medizinischen Datenaustausches.

Systemwechsel von «fit to fly» 
zur Kontraindikationsliste

Die geforderte Rollenklärung konnte mit dem Systemwechsel von der Bestätigung der Transportfähigkeit («fit to fly») zur Kontraindikationsliste erreicht werden. Da die medizinische Bestätigung der Transportfähigkeit eine Expertentätigkeit und nicht mit der ärztlichen Rolle des behandelnden Arztes vereinbar ist, beurteilt der behandelnde Arzt ausschliesslich, ob medizinische Kontraindikationen vorliegen, und hält gesundheitliche Probleme im Bericht fest. Die Transportfähigkeit beurteilt er hingegen nicht. Diese Abklärung liegt in der Verantwortung des Arztes, der die notwendige medizinische Begleitung für den Transport sicherstellt.
Für die Weiterleitung der medizinischen Informationen braucht der behandelnde Arzt die Zustimmung der rückzuführenden Person oder die gesetzeskonforme Entbindung vom Berufsgeheimnis durch die dafür zuständige behördliche Instanz. Mit der Konkretisierung des Systemwechsels sollte auch diese Voraussetzung klar geregelt werden unter Respektierung der ethischen Grundsätze3 ärztlichen Handelns.
Für die Umsetzung des Systemwechsels setzte das Staatssekretariat für Migration eine Umsetzungs­arbeitsgruppe «Systemwechsel Kontraindikation» ein, in der neben Bund und Kantonen die FMH, die SAMW und die KSG vertreten sind. Der Systemwechsel erfolgte im April 2015 und wurde im Bereich der Linienflüge begleitend evaluiert bis und mit 30. September 2015. Dabei stützte sich das Staatssekretariat für Migration qualitativ und quantitativ auf Rückmeldungen der kantonalen Migrations- und Vollzugsbehörden sowie der Ärzteschaft. Der Systemwechsel wurde grundsätzlich sowohl von Behörden- als auch von ärztlicher Seite positiv beurteilt. Ebenfalls positiv äusserte sich die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter4, die im Rahmen des Monitorings sämtliche Rückführungen der Vollzugsstufe 4 (unter Anordnung polizeilichen Zwangs und polizeilicher Massnahmen) beobachtet.

Definitive Umsetzung: neue und national einheitliche Formulare

Die Zwischenevaluation vom September 2015 erlaubte es der Umsetzungsarbeitsgruppe «Systemwechsel Kontraindikation», kritische Rückmeldungen zu geben und Verbesserungsvorschläge in den laufenden Prozess zu integrieren. Unterdessen wurden die definitiven Formulare verabschiedet und die Abläufe präzisiert:
– Liegt ein rechtskräftiger Wegweisungsentscheid vor, stellt die zuständige kantonale Behörde sicher, dass im Rahmen der Ausreisevorbereitungen die notwendigen medizinischen Abklärungen rechtzeitig erfolgt sind. Ergeben sich im strukturierten Gespräch Hinweise auf eine gesundheitliche Gefährdung oder verlangt die betroffene Person eine medizinische Beurteilung, wird der für die Behandlung verantwortliche Arzt informiert. Dieser ist aufgefordert, den ärztlichen Bericht zu verfassen. Eine Kontraindikationsliste basierend auf internationalen Literaturangaben ist dem Berichtsformular als Hilfestellung angehängt.
– Die Kontraindikationsliste ersetzt die sorgfältige Beurteilung im Einzelfall nicht. Auch bei Krankheiten, die die strikten Kriterien der Liste nicht erfüllen, kann eine inakzeptable Gesundheitsgefährdung bestehen. Als Beispiel soll exemplarisch das Vorliegen von mehreren Krankheiten oder der symptom­verstärkende Effekt des unter Umständen extremen psychischen Stresses genannt werden.
– Der behandelnde Arzt trifft seine Beurteilung unabhängig und folgt in seiner Entscheidung ethisch-medizinischen Grundsätzen. Er kann der betroffenen Person notwendige Zusatzuntersuchungen vorschlagen. Erhält der Arzt keine Zustimmung des Patienten zur Weitergabe der Informationen, muss er abwägen, ob er sich behördlich vom Berufs­geheimnis entbinden lässt, und leitet die entsprechenden Schritte ein.
– Liegen Kontraindikationen vor, leitet der behandelnde Arzt seinen Bericht vertraulich an den für den Transport verantwortlichen Arzt weiter. Für die Weiterleitung der medizinischen Informationen entbindet die rückzuführende Person den Arzt explizit vom Berufsgeheimnis.
Sowohl der Zentralvorstand der FMH als auch die SAMW und KSG haben diesem Vorgehen zugestimmt.
Abbildung 1: Ärztlicher Bericht für den behandelnden Arzt.
Abbildung 2: Als Hilfestellung und zur Ergänzung steht dem Arzt eine Kontraindikationsliste für Flugreisen zur Verfügung.
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