Falsche Zielgruppe

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05661
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(2122):708

Affiliations
Lic. oec. publ., MHA, Mitglied der Redaktion

Publiziert am 24.05.2017

Jedes Jahr werden zwischen 20 und 30 Velofahrer und E-Bikerinnen bei Verkehrsunfällen getötet, hinzu kommen mehr als 1000 Schwerverletzte. Die Unfallstatistik zeigt: Während die Anzahl der Schwerverletzten und Getöteten unter den Auto- und Motorradfah­renden trotz zunehmender Verkehrsdichte stetig abnimmt, bleibt sie bei den Velofahrenden konstant und nimmt bei den E-Bikes sogar zu. Wer die vielen gehässigen Kommentare in den Medien liest und hört, muss zum Schluss kommen, es liege allein an den schlecht erzogenen «Velorowdies», die sich nicht an die Verkehrsregeln halten. Selber schuld, die Tubel.
Genauso einen «Tubel» zeigt der aktuelle Videoclip der SUVA, die damit Unfallprävention betreiben will. Das Filmchen stellt die Velofahrerinnen und Velo­fahrer als hirnlose Idioten dar. Es zeigt einen jungen Familien­vater, der ums Leben kommt, weil er auf dem Arbeitsweg mit dem Velo die Verkehrsregeln missachtet hat. «Was dich [aber] umbringt ist, wenn du wie ein Tubel Velo fährst», kommentiert der Sprecher aus dem Off den tödlichen Unfall. Und als der Arbeitskollege feststellt, dass er als Autofahrer für einmal vor dem Velo­fahrer im Büro eingetroffen ist, kommentiert er hämisch: «Pffft … ist ihm die Luft ausgegangen.» Auch mir ist kurz die Luft weggeblieben, als ich den Clip zum ersten Mal gesehen habe: Wie pietätlos darf denn Unfallprävention sein?
Das alles ist Grund genug, einen Blick auf die Unfallstatistik zu werfen. Sie zeigt, dass der Strassenverkehr insgesamt sicherer geworden ist. Das ist erst einmal erfreulich. Das Plus an Verkehrssicherheit ist jedoch ungleich verteilt. Sicherer geworden ist der Verkehr vor allem für die Autofahrenden, die vom Schutz immer besserer Knautschzonen und Airbags profitieren. Von ihnen wurden in der Schweiz 2016 ein Viertel weniger als 2012, nämlich 947 statt 1204, bei Verkehrsunfällen schwer verletzt oder getötet. Auch die Motorradfahrer waren 2016 sicherer unterwegs als in den vier Jahren zuvor. Nur für die Velofahrenden blieb die ­Gefahr eines Unfalls mit schwerwiegenden Folgen konstant. Die Schuld dafür auf ihr unvorsichtiges und rücksichtsloses Verhalten zu schieben, greift aber zu kurz.
Im SUVA-Video erfährt man, dass in knapp der Hälfte aller Unfälle mit Velos die Velofahrenden die Schuldigen seien. Diese Aussage ist richtig und dennoch irreführend, denn zu dieser Statistik zählen auch die Selbstunfälle, bei denen keine anderen Verkehrsteilnehmenden beteiligt waren. Wenn aber Velos mit motorisierten Fahrzeugen kollidieren, wie beim tödlichen Unfall, der im Video inszeniert wird, sieht es ganz anders aus: Dann ist nämlich in fast drei Vierteln der Fälle die Autolenkerin Hauptverursacherin des Unfalls. Noch weniger sind Velofahrende an Kollisionen schuld, die sich an Wochentagen zwischen 6 und 9 Uhr ereignen, also zur Hauptverkehrszeit. Genau die im ­Video dargestellte Situation, wo ein Velofahrer im Stossverkehr bei einer selbstverschuldeten Kollision mit einem Autolenker ums Leben kommt, ist statistisch betrachtet sehr untypisch.
Es gibt die hirnlosen Idioten unter den Velofahrenden zweifellos. Doch es ist falsch, die Unfallopfer bei Kollisionen zwischen Velo- und Autofahrerinnen pauschal zu Tätern zu machen: Nur für ein Viertel dieser Unfälle sind die Velofahrenden verantwortlich. Statistisch belegt ist hingegen, dass je länger, desto weniger um sein eigenes Leben fürchten muss, wer sich mit zwei Tonnen Blech umgibt, um von A nach B zu gelangen. Am meisten Velofahrende kommen zu Schaden, wenn Hektik herrscht im Pendlerverkehr. Wer stresst und drängelt, übersieht schon mal einen Velofahrer. Besonders gefährliche Orte sind übrigens Verkehrskreisel. Diese weit verbreiteten Infrastrukturen zur Verflüssigung des motorisierten Verkehrs sind eigentliche Velofallen. Und apropos Verkehrsregeln: Ich beobachte täglich ­Autofahrer, die Verkehrsregeln missachten, indem sie zum Beispiel den Velofahrenden den Weg rechts an der Kolonne vorbei abschneiden. Liebe SUVA, bitte richten Sie Ihr nächstes Präventionsvideo an die richtige Zielgruppe!
anna.sax[at]saez.ch