Die elektronische Zigarette im Tabakproduktegesetz:

Schadensreduktion durch «weniger schädliche» Produkte?

Tribüne
Ausgabe
2017/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05759
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(2829):915–917

Affiliations
Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie, Mitglied der FMH

Publiziert am 12.07.2017

Das Parlament hat 2016 das Tabakproduktegesetz (TabPG) zurückgewiesen mit der Auflage an den Bundesrat, dass Jugendschutz verankert, Werbeverbote gestrichen und nur das Wesentliche den Tabak betreffende vom Lebensmittelgesetz übernommen werde. Der Gesundheitsminister hat damit unlösbare Aufgaben: Jugendschutz ohne globales Werbeverbot gibt es nicht. Das Verkaufverbot an Minderjährige war unbestritten; unklar dagegen bleibt, wie im TabPG die E-Zigarette geregelt werden soll. Nationalrat Pezzatti meinte, die «erwiesenermassen weniger schädlichen Produkte [1] seien weniger strikten Regelungen zu unterwerfen.
Seit Prof. Etter die E-Zigarette als Marktkonkurren­tin der Tabakzigarette darstellte [2, 3], wird über Schadensreduktion («harm reduction») diskutiert. Befürworter eines tabaklosen und verbrennungsfreien Nikotinkonsums, Aerzte und Gesundheitspolitiker verwenden das Argument. Die folgenden Zeilen beschreiben, wie der Begriff entstand und was er in der Tabakprävention bedeutet.

Zusatzstoffe und Filterzigarette

Nikotin wurde früh als wesentlich für die Kundenbindung erkannt. Die erste Zigarette, welche 1913 nikotinreicheren Burley-Tabak enthielt, war die Camel. Um die stärker verspürte Harschheit zu mildern, wurde ihr Tabak mit Zucker und Lakritze behandelt, was Husten linderte und Inhalation erlaubte [4]. Lucky Strike (1916) und Chesterfield (1918) wurden ebenso manipuliert. Seither sind Beschwichtigungen, wie «kein Husten», «wir haben vom Tabak die schädigenden korrosiven Stoffe entfernt» [5] und ärztliche Empfehlungen Teil der Werbung. Tabakmanipulation und Marketing bezweckten, die natürliche rauch- und nikotinbedingte Irritation der Atemwege zu verschleiern.
Der Bericht des Surgeon General 1964 [6] kam zum Schluss, dass Zigaretten die Mortalität der Raucher wesentlich erhöhe. Die Daten genügten nicht, um Filterzigaretten mit einem veminderten Risiko in Verbindung zu bringen. Diese wurden dennoch in den 60er-Jahren zur Norm, ebenso wie die Werbung für ihren nicht quantifizierten Gesundheitsvorteil.
Der Gebrauch von E-Zigaretten führt zu Nikotinabhängigkeit.

«Leichte» Zigarette und Nikotin-
abhängigkeit

1966 wurden Nikotin- und Teergehalte beurteilt. «Die Daten legen nahe: je geringer der Nikotin- und Teergehalt, desto geringer die Schäden» [7]. So suggerierte die Werbung über Nikotin- und Teergehalt seit den 70er-Jahren geringere Schädlichkeit, ohne dass verlässliche Daten vorlagen. Diese wurden in «maschinell gerauchten» Zigaretten unter Standardbedingungen gemessen, aber erst 1996 forderte die Federal Trade Commission, dass nur normiert gemessene Angaben zu Nikotin- und Teergehalt in Packung und Werbung zulässig sind. Den «leichten» Zigaretten gestand man einen nichtdefinierten Gesundheitsvorteil zu, obwohl der Report des Surgeon General [8] schon 1981 festhielt, dass «es keine harmlose (safe) Zigarette gibt und kein harmloses Konsumniveau (level)». Rauchen von Zigaretten mit niedrigem Teergehalt könnte das Risiko für Lungenkrebs vermindern, aber “the benefits are minimal in comparisoon with giving up cigarettes entirely”. Der Report dokumentierte, dass Teer- und Nikotinangaben die vom Raucher erhaltenen Dosen unterschätzen.
Tabakfirmen optimierten die Nikotinaufnahme mit Ammoniak und Menthol. Die Industrie fügt diese Stoffe seit den 20er-Jahren bei, um den Reiz auslösenden Tabakrauch zu lindern und «selbst während einer Erkältung» das Rauchen zu ermöglichen. Menthol anästhesiert, unterdrückt den Hustenreiz und erlaubt eine tiefere Inhalation. Gering dosiert (0,01–0,03%) wird es auch den nicht als «Mentholzigaretten» bezeichneten Zigaretten zugesetzt, während Mentholzigaretten mehr als 0,45% des Tabakgewichts enthalten [9]. Diese sind bei jungen Rauchern beliebt und erlauben eine effizientere Nikotinaufnahme; Rauchern von Mentholzigaretten fällt der Rauchstopp schwerer. Die US-amerikanische Heilmittelbehörde FDA wurde erst 2013 aufgefordert, Menthol zu regulieren [10].
Ammoniak wird zugesetzt, damit Nikotin in basischem Rauch schneller ins Gehirn gelangt und so rasch abhängig macht. Denn Nikotin liegt in saurem Milieu als Salz vor, im basischen aber als flüchtige, leichter absorbierbare Substanz. Eine der ersten Zigaretten mit Ammoniakzusatz war die Marlboro (ab 1956 erstmals aus­serhalb der USA in Neuchâtel hergestellt), deren Verkaufserfolg die bessere Absorption bestätigte. Aus­serdem erfasst die Rauchmaschine das flüchtige Nikotin nicht [11], im Gegensatz zu seiner flüssigen oder Salz-Form.
Hersteller erkannten die Nikotinabhängigkeit, Grundlage der weltweiten Tabakepidemie, früher als die Public-Health-Fachwelt. Der Surgeon General beurteilte diese erst 1988 [12]. Abhängige Raucher suchen mit der Zigarette einerseits mittels des rasch ansteigenden Nikotinspiegels das «Belohnungsgefühl», müssen aber andererseits nach einer Weile dem absinkenden Nikotinspiegel zuvorkommen, um Entzugssymptome zu vermeiden [13]. Deshalb bedeuten «milde» Zigaretten nicht geringere Rauchexposition: Da Raucher unbewusst einen einigermassen konstanten, von der Abhängigkeit diktierten Nikotin-Blutspiegel zu erhalten suchen, inhalieren sie «milde» Zigaretten öfter und tiefer, und sie rauchen näher an den Filter. Somit erzeugen «milde» Zigaretten höhere Kohlenmonoxid-Blutspiegel als andere.

Die WHO Rahmenkonvention und die E-Zigarette

Vorläufer der E-Zigaretten waren die als weniger schädlich angepriesenen Tabakprodukte (potentially reduced exposure products, PREPS) der 90er-Jahre. Die Promotion «All of the taste ... less of the toxins» und «Reduced carcinogens. Premium taste» bezog die nun unbestrittene Karzinogenizität ein, von welcher sich die neueren Produkte abheben sollten. Ein von der FDA beauftragtes Ärzte-Komitee schloss zwar 2001, dass «es machbar ist, das Krankheitsrisiko durch Vermindern der tabakbedingten toxischen Substanzen zu verringern» [14] und verwendete dafür erstmals den Begriff «harm reduction». Sein Bericht sprach aber gleichzeitig die Besorgnis aus, dass die PREPS von Rauchern gebraucht würden, die sonst aufhören würden. Andere verleiteten sie zum Rauchen, da sie als safe wahrgenommen würden. Ein Vierteljahrhundert, nachdem der Bericht von 1981 geschlossen hatte, dass es keine «harmlose» Zigarette gibt, wurde der öffentlich wahrgenommenen, relativen Harmlosigkeit 2006 endlich Rechnung getragen, indem die irreführenden Bezeichnungen «geringer Teergehalt» oder «mild» verboten wurden.
Seit dem Bericht von 1964 wird die Ursache der Tabakepidemie nicht nur im Tabak, sondern auch im Nikotin und im Verhalten der Tabakindustrie erkannt, was 2004 zur Rahmenkonvention der WHO (FCTC) führte. In diesem Vertragswerk der UNO halten die Länder fest, dass Tabakprodukte entwickelt werden, um Abhängigkeit zu erzeugen und dass die Aktionen der Industrie einzubeziehen seien, um die Epidemie einzudämmen. Artikel 5.3 verpflichtet die Länder, Präventionsmassnahmen vor ihrer Aushöhlung durch die Industrie zu schützen. Zwischen Public Health und Industrie war die Front klar definiert.
Die 2005 in die USA eingeführte E-Zigarette durchbrach diese Front. Durch Promotionsschranken ungehindert entwickelte sich der E-Zigaretten-Markt gewaltig. Nach einem Jahreszuwachs 2015 von 24% berichtete Forbes von 2,6 Millionen Gebrauchern im Vereinigten Königreich [15] und dreimal so vielen in den USA, was 43% des Weltmarktes bedeutet [16]. Auch in der Schweiz hat sich die E-Zigarette verbreitet: Der Anteil der einmal Gebrauchenden verdoppelte sich 2015 innerhalb von zwei Jahren [17].

Werbung und öffentliche Gesundheit

Die E-Zigarette ist gefährlich, da sie Nikotin leicht und billig zugänglich macht. Nikotin ist Einstiegsdroge für junge Menschen in den Tabakkonsum und in andere Abhängigkeiten [18, 19]. Das Aerosol der E-Zigaretten enthält Karzinogene, Feinpartikel und Metallpartikel, nebst einer Vielzahl anderer erhitzter Substanzen, deren wiederholtes jahrelanges Einatmen zurzeit unabsehbare Folgen für Individuum und Gesellschaft hat.
Für Erwachsene wird die E-Zigarette mit der Strategie der «Schadensreduktion» beworben, da sie Rauchstopphilfe und Ersatz für die Tabakzigarette sei. Zwei völlig verschiedene Aspekte werden vermengt: Einerseits kann die E-Zigarette motivierten Rauchern helfen, sich von ihrer Nikotinabhängigkeit zu befreien. Andererseits vertritt Prof. Etter für seine Vision [1, 2] der öffentlichen Gesundheit die Ansicht, wegen umsteigender Raucher werde die E-Zigarette durch das Spiel des Marktes die Tabakzigarette verdrängen. Dies ist nicht plausibel. Da die Tabakindustrie den Markt dominiert, wird sie die E-Zigarette mit der Strategie «Schadenbegrenzung» nicht so vermarkten, dass sie ihren primären Tabakmarkt sabotiert. Der häufige gleichzeitige Gebrauch von E- und Tabakzigaretten zeigt, dass abhängige Raucher zwar mit dem neuen Gadget (erfolglos) versuchen, sich weniger zu schaden, aber die Tabakzigarette nicht aufgeben können oder wollen.
Für Jugendliche operiert die Promotion der E-Zigarette mit Verharmlosung. Das Aerosol ist «Dampf», seine Gebraucher sind «Dampfer». Lustige Farben, vielfältig süsslich aromatisierte nikotinfreie Liquids und ansprechendes Design wirken auf junge Einsteiger. Der Surgeon General [18] stellt 2016 fest, dass der Gebrauch von E-Zigaretten bei den 18- bis 24-Jährigen denjenigen von Tabakzigaretten der über 25-Jährigen übersteigt. Er ist mit Konsum von Rauchtabak verbunden. Leventhal untersuchte 14-jährige Mittelschüler, die nie Tabak­zigaretten geraucht hatten [20]. Diejenigen, die anfänglich schon mit E-Zigaretten experimentiert hatten, rauchten nach einem Jahr häufiger als diejenigen, welche nie mit E-Zigaretten zu tun gehabt hatten. Wie bei anderen Abhängigkeiten greifen durch Nikotin «Angefixte» früher oder später zur besten Anwendungsmethode ihrer Droge, nämlich zur Tabakzigarette. Die Promotion der E-Zigarette integriert somit die Botschaft der Tabakindustrie: «Tabak ist diskutabel, sein Konsum muss der Entscheidung Erwachsener reserviert bleiben». Das spricht natürliche jugendliche Risikobereitschaft sowie das Übertretungsverhalten an. Der Beschluss unseres Parlamentes, den Verkauf an Minderjährige, nicht aber die Werbung von Tabakprodukten zu beschränken, unterstützt diese erfolgreiche Strategie: Man fand bei Schweizer Rekruten, dass die sich als «Dampfer» bezeichnenden sich nach 15 Monaten häufiger als regelmässige Tabakraucher einstuften als ihre nicht «vapenden» Kameraden [21].

Schlussfolgerung

Seit 1900 beweist sich, dass das Ausmass der Tabakepidemie, mehr als vom pflanzlichen Produkt, von seiner chemischen Manipulation und von der kommerziellen Promotion abhängt. Dabei münzte die Industrie die Hypothesen der Experten in Verkaufsargumente um, die in der öffentlichen Wahrnehmung nie korrigiert wurden, wie dies die Beispiele der Filterzigaretten und der «milden» Zigaretten veranschaulichen. Die Debatte «Schadensreduktion durch E-Zigarette» gleicht diesem Vorgehen. Der Industrie gelingt es damit nicht nur, das Nikotin, die Gestik des Rauchens und den Tabak zu ­banalisieren, sondern sich als Partner der öffentlichen Gesundheit zu präsentieren. Die Händler zitieren zum Beispiel die «95% geringere Schädlichkeit» der E-Zigarette als wissenschaftliche Tatsache. Sie beruht aber einzig auf der Ansicht einer Expertengruppe, die ­aufgefordert war, die gefühlsmässig wahrgenommene Schädlichkeit der E-Zigarette mit der Tabakzigarette zu vergleichen [22]. So erstellte 2014 auch die Eidgenössische Kommission für Tabakprävention EKTP ein Positionspapier [23], dessen ambivalente Aussagen 2016 korrigiert werden mussten [24]. Die Empfehlungen beruhten auf einer Delphi-Umfrage unter Rauchstoppexperten. Wie es typisch ist für solche Studien, bildeten sie die Neigung der Studienleitung für den Rauchstopp mittels E-Zigaretten ab: Sie hatte keine Pädiater als Experten befragt.
Parlamentarier sind gefordert, der FCTC folgend, im TabPG das Werbe-, Sponsoring-, und Promotionsverbot für Tabakprodukte zu verankern und ihm auch die neueren Produkte zu unterstellen. E-Zigaretten für aufhörwillige Raucher bedürfen keiner Werbung, Rauchstopp-Beratung genügt. Die Raucherquoten nordischer Länder und Australiens beweisen [25], dass kohärente Werbeverbote die Raucherquoten wirksam senken, wenn sie angewendet werden.
Dr. Rainer M. Kaelin
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