Organspende in der Schweiz – explizite oder vermutete Zustimmung?

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Ausgabe
2018/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06203
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(05):137-139

Affiliations
a Swisstransplant, die nationale Stiftung für Organspende und Transplantation; b Ausschuss von Swisstransplant zur Förderung der Organ- und Gewebespende in der Schweiz; c Medizinischer Ausschuss von Swisstransplant

Publiziert am 31.01.2018

Swisstransplant macht einen Vorschlag, wie man die Situation der Organ- und Gewebespende in der Schweiz verbessern könnte, und stellt ihn zur öffentlichen Debatte. Der zentrale Punkt ist, dass die Entscheidungsverantwortung in Bezug auf die Organspende bei jedem Einzelnen und nicht primär bei den Angehörigen liegt. Dies könnte mit der erweiterten vermuteten Zustimmung in Kombination mit einem Register für Personen, die ihre Organe nicht spenden möchten, erreicht werden. Dadurch würde die Sicherheit erhöht, dass dem Willen der verstorbenen Person entsprochen wird.

Die heutige Situation der Organspende 
in der Schweiz

Die Schweiz hat grundsätzlich eine hervorragende ­Gesundheitsversorgung, aber bei der Gewebe- und ­Organspende zeigt sich ein etwas anderes Bild: Mit durchschnittlich 14,2 postmortalen Spenderinnen und Spendern pro Million Einwohner und Jahr (Mittel 2012–2016) findet sich die Schweiz im internationalen Vergleich auf einem der hinteren Plätze [1, 2]. Die niedrige effektive Spenderate hat zur Folge, dass Organe für Transplantationen fehlen, weshalb die Patientinnen und Patienten auf der Warteliste länger auf eine Organtransplantation warten müssen. Diese Situation ist eine wesentliche Belastung sowohl für die Menschen auf der Warteliste und deren direktes Umfeld als auch für die ganze Gesellschaft, denn dadurch werden zusätzliche Krankheitskosten sowie Kosten wegen Arbeitsausfall verursacht. Für viele Patientinnen und Patienten bedeutet das Warten auf ein Organ, dass sich während dieser Zeit nicht nur ihre Lebensqualität, sondern auch die ­Gesundheit zunehmend verschlechtert, was in rund 70 Fällen pro Jahr sogar zum Tod auf der Warteliste führt.
Der Mangel an Organen für die Transplantation hat eine bekannte Ursache: Es gibt in der Schweiz zu wenig effektive Organspenderinnen und -spender. Diese Tatsache ist nicht neu, sie besteht seit geraumer Zeit [3]. Swisstransplant, die nationale Stiftung für Organspende und Transplantation, hat in der Vergangenheit zusammen mit Partnern (Intensiv- und Notfallmediziner, Pflegefachkräfte, Spitäler, Krankenversicherer und Politik) verschiedene Initiativen ergriffen, um diese ­Situation zu verbessern. Beispiele hierfür sind unter anderem die Wiedereinführung der Organspende nach Herz-Kreislauf-Stillstand, das Swiss Monitoring of Potential Donors (SwissPOD) zur verbesserten Spenderidentifikation in den Spitälern und nicht zuletzt die Etablierung von Strukturen im Spendeprozess. Trotz dieser Erfolge und des im Jahr 2013 lancierten Aktionsplans des Bundes «Mehr Organe für Transplanta­tionen» konnte die Organspenderate im langjährigen Mittel bisher jedoch nicht wesentlich und nachhaltig gesteigert werden [1]. Dies bedeutet, dass in der Schweiz weiterhin und in beachtlichem Ausmass Organe für die Transplantation fehlen. Ein wesentlicher Faktor, der die Spenderate negativ beeinflusst, ist die anhaltend hohe Ablehnungsrate der Angehörigen; vor allem, wenn der Wille der oder des Verstorbenen nicht klar dokumentiert und kommuniziert wurde [1].

Die aktuelle Regelung der Zustimmung

Die aktuell geltende gesetzliche Bestimmung ist, dass eine postmortale Organ- oder Gewebespende grundsätzlich nur nach expliziter Zustimmung zu Lebzeiten der verstorbenen Person erfolgen kann. Wenn keine dokumentierte Willensäusserung der verstorbenen Person vorliegt, so müssen deren nächste Angehörige angefragt werden, ob ihnen eine Erklärung zur Spende bekannt sei. Ist den Angehörigen keine solche Erklärung bekannt, so können Organe nur entnommen werden, wenn die Angehörigen einer Spende stellvertretend im Sinne der respektive des Verstorbenen zustimmen. Die gesetz­liche Bestimmung, dass Angehörige stellvertretend über eine Organspende entscheiden können, wenn keine dokumentierte Willensäusserung der verstor­benen Person vorliegt, wird als «erweiterter» Modu­s der Zustimmung bezeichnet.
Es ist eine Tatsache, dass sich nur ein kleiner Teil der Schweizer Bevölkerung (genaue Zahlen hierzu liegen keine vor, die Schätzung beläuft sich auf ungefähr 25%) zu Lebzeiten für oder gegen eine Organspende entscheidet und diese Entscheidung auch dokumentiert, beispielsweise mit einer Spendekarte oder Patientenverfügung [4]. Dies hat zur Folge, dass in einer grossen Mehrheit der Fälle die Entscheidung bezüglich der ­Organspende im Todesfall bei den Angehörigen liegt. Für sie ist dies häufig eine sehr belastende Situation, da sie – ausgerechnet im Moment der Trauer über den ­bevorstehenden oder bereits eingetretenen Tod ihres Nächsten – eine Entscheidung fällen müssen, welche oft nicht einfach zu treffen ist [5].
Es erstaunt daher wenig, dass die Angehörigen eine ­Organspende häufig ablehnen (in 56% aller Angehörigengespräche im Durchschnitt 2012–2016, wie aus den Zahlen von SwissPOD hervorgeht) [1]. Eine Organspende wird von den Angehörigen wohl oft deshalb abgelehnt, weil sie nicht wissen, ob die verstorbene Person eine Organspende gewünscht hätte oder nicht. Die Angehörigen gehen in diesem Fall mutmasslich davon aus, mit ­einer Ablehnung der Spende keine falsche Entscheidung zu treffen. Problematisch ist diese Annahme aber, wenn man bedenkt, dass gemäss Befragungen die Einstellung zur Organspende und -transplantation in weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung überwiegend positiv ist und die Spendebereitschaft hoch wäre [4, 6].
Es ist deshalb gut möglich, dass mit der heutigen rechtlichen Praxis – der expliziten Zustimmung, bei der in einer Mehrzahl der Fälle die Angehörigen über eine ­Organspende entscheiden müssen – in unterschied­lichen Fällen nicht der Wille der verstorbenen Person befolgt und damit auch der Absicht des Gesetzgebers widersprochen wird. Dieses rechtliche und ethische Problem liesse sich lösen, wenn es auch in der Schweiz ein offizielles Register geben würde, in dem man zu Lebzeiten festhalten kann, ob man nach dem Tod seine Organe spenden möchte oder nicht. Damit würde sicher­gestellt, dass dem Willen der oder des Verstorbenen auch tatsächlich entsprochen wird. Swisstransplant betrachtet die Respektierung des Wunsches der verstorbenen Person als essentiell, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Organspende zu garantieren.

Die vermutete Zustimmung

Eine zum Register zusätzliche Option wäre ein Wechsel von der geltenden Zustimmungslösung zur Widerspruchslösung bei der Organspende. Die Zustimmungslösung wird auch als ‘explizite Zustimmung’ bezeichnet (respektive ‘consentement explicite’ und ‘consenso esplicito’ auf Französisch und Italienisch). Die Widerspruchslösung wird im französischen und italienischen Sprachgebiet ‘consentement présumé’ beziehungsweise ‘consenso presunto’ genannt. Deshalb werden ‘Widerspruchslösung’ und ‘vermutete Zustimmung’ im Folgenden auch auf Deutsch gleichbedeutend verwendet. Vor Inkrafttreten des nationalen Transplantationsgesetzes am 1. Juli 2007 galt in der Schweiz in fünf Kan­tonen die erweiterte explizite Zustimmung, während 17 andere Kantone die vermutete Zustimmung kannten [7].
Ein Wechsel von der expliziten zur vermuteten Zustimmung wurde in der Vergangenheit in der Schweiz ­bereits verschiedentlich diskutiert und in Betracht gezogen. 2015 wurde eine Gesetzesänderung im Parlament behandelt, aber letztendlich abgelehnt. Die par­lamentarische Diskussion basierte auf den Postulaten Gutzwiller, Amherd und Favre, welche mit dem Bericht «Prüfung von Massnahmen zur Erhöhung der Anzahl verfügbarer Organe zu Transplantationszwecken in der Schweiz» des BAG beantwortet wurden [7]. Unter anderem kam dieser Bericht zum Schluss: «Ein Wechsel von der geltenden Zustimmungslösung zur ‘Widerspruchslösung’ ist für eine Steigerung der Spenderate nicht ausschlaggebend. Die wissenschaftliche Literatur zeigt ein uneinheitliches Bild bezüglich der Wirkung die-
ser Massnahme. Aus dem Ländervergleich geht aber hervor, dass für hohe Spendezahlen nicht die Widerspruchslösung alleine verantwortlich sein kann» [7]. Auch die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE) hatte 2012 eine Stellungnahme zur vermuteten Zustimmung im Bereich der Organspende verfasst und es darin einstimmig abgelehnt, einen Übergang zur vermuteten Zustimmung zu empfehlen [8]. Begründet wurde dieser Entscheid unter anderem folgendermassen: «Statistisch gesehen findet sich zwar bei einer Mehrheit der Länder mit einer Va­riante der Widerspruchslösung eine höhere Spenderrate und eine höhere Bereitschaft zur Organspende als bei der Zustimmungslösung. Aufgrund des Zusammenspiels komplexer Faktoren kann jedoch in keinem Land die Erhöhung der Spenderzahl mit der Widerspruchs­lösung in einen eindeutigen Kausalzusammenhang gebracht werden. Denn deren Einführung wurde oftmals von anderen Massnahmen begleitet, die die Spenderrate nachweislich positiv beeinflussen. Dazu gehören vor allem eine gute Aufklärung der Bevölkerung, eine Optimierung der Spitalprozesse und Logistik, Trans­parenz und Vertrauenswürdigkeit der Strukturen, eine gute Spenderidentifikation und die Schulung des medizinischen Personals» [8].
Swisstransplant teilt sowohl die Einschätzung des BAG, dass für hohe Spendezahlen nicht die vermutete Zustimmung alleine verantwortlich sein kann, als auch das Urteil der NEK-CNE, dass die Erhöhung der Spenderzahl nicht mit der vermuteten Zustimmung in einen eindeutigen Kausalzusammenhang gebracht werden kann [7, 8]. Im Rahmen des Aktionsplans «Mehr Organe für Transplantationen» des Bundes wurden die von der NEK-CNE als ausschlaggebend für eine Erhöhung der Spenderate betrachteten Massnahmen in der Zwischenzeit umgesetzt. Trotzdem resultierte daraus bisher keine wesentliche Steigerung der Organspende. Wir betrachten es deshalb als plausibel, dass dies möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass die gesetzliche Regelung eben doch einen grösseren Einfluss auf die Spenderate als angenommen haben könnte. Aufgrund der Beobachtung der Entwicklung in der Schweiz liegt die Folgerung nahe, dass eine nachhaltige Erhöhung der Spenderate nur erfolgen würde, wenn alle Faktoren gemeinsam ihre Wirkung entfalten.

Die Position von Swisstransplant

Swisstransplant betrachtet es als essentiell, dass dem Wunsch der oder des Verstorbenen – sei es eine Ablehnung oder Zustimmung – bezüglich der Organspende auch tatsächlich entsprochen wird. Dies kann unseres Erachtens die heutige Praxis, bei der faktisch in einer grossen Mehrheit der Fälle die Angehörigen über eine Organspende entscheiden müssen, nicht garantieren, weil der Wille zu oft unbekannt ist.Es stellt sich deshalb die Frage: «Was hätten wir in der Schweiz bei ­einem Wechsel zur erweiterten vermuteten Zustimmung wirklich zu verlieren?» Niemand, der seine Organe nicht spenden möchte, würde mit der vermuteten Zustimmung dazu gezwungen. Niemand, der seine Organe spenden möchte, würde daran gehindert. Angehörige müssten sich nicht mehr die Frage stellen, ob sie mit einer Zustimmung zur oder Ablehnung der ­Organspende tatsächlich im Sinne ihrer beziehungsweise ihres Nächsten entschieden haben.
Wir betrachten deshalb eine Kombination eines offi­ziellen Registers für Personen, die ihre Organe nicht spenden möchten, und der erweiterten vermuteten ­Zustimmung als eine Option, bei der am Ende alle einen Vorteil im Vergleich zum Status quo haben: Personen, die keine Organe spenden wollen, würden dies in einem offiziellen Register dokumentieren und hätten dadurch die Sicherheit, dass tatsächlich in jedem Fall gemäss ­ihrem Willen gehandelt wird. Personen, die ihre Organe spenden möchten, müssten nichts unternehmen und könnten spenden, wenn keine medizinischen Gründe dagegen sprechen. Und die Angehörigen müssten nicht stellvertretend über eine Organspende entscheiden. Denn schliesslich liegt die Entscheidungsverantwortung in dieser Frage bei der verstorbenen Person. Und um ein potentielles Missverständnis auszuräumen: Die erweiterte vermutete Zustimmung, wie sie viele Länder kennen, bedeutet nicht, dass es «automatisch» zu einer Organspende kommt. Wenn bekannt ist, dass eine Person keine Organe spenden wollte, können die Ange­hörigen eine Organspende ablehnen, auch wenn eine solche von der oder dem Verstorbenen zu Lebzeiten nicht mit einem Registereintrag ausgeschlossen wurde. Im Vergleich zur heutigen Situation – sowie nach einer umfassenden Information der Bevölkerung hinsichtlich der Bedeutung und Modalität der erweiterten vermuteten Zustimmung – würde jedoch grössere Gewissheit bestehen: Es wäre eine wesentliche Entlastung sowohl für die Angehörigen als auch für das medizinische Fachpersonal zu wissen, dass die persönliche Entscheidung, keine Organe spenden zu wollen, entweder zu Lebzeiten im Register eingetragen oder andernfalls kommuniziert worden wäre.
Aus diesen Gründen befürwortet Swisstransplant einen Wechsel von der expliziten zur erweiterten vermuteten Zustimmung in Kombination mit einem Register für Personen, die keine Organe spenden möchten. Der zentrale und wichtigste Punkt ist dabei, dass dies die Sicherheit bezüglich der Respektierung des Willens der Verstorbenen besser garantiert und die Angehörigen und das Spitalpersonal in einer sehr schwierigen Situation entlastet. Swisstransplant lädt deshalb die Schweizer Bevölkerung und die Politik dazu ein, ihre Position zur Frage «explizite oder vermutete Zustimmung?» erneut zu überdenken.
PD Dr. med. Franz F. Immer, CEO, Swisstransplant
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Tel. 058 123 80 02
Fax 058 123 80 01
franz.immer[at]swisstransplant.org
1 Website von Swisstransplant. https://www.swisstransplant.org/de/infos-material/fuer-fachpersonen/
2 Council of Europe. International Figures on Donation and Transplantation 2016. Newsletter Transplant. 2017;22(1).
3 Weiss J, Marthaler M, Immer FF. Strategien zur Erhöhung der Organspenderzahlen. Schweizerische Ärztezeitung. 2010;91(38):1466–9.
4 Weiss J, Shaw D, Schober R, Abati V, Immer FF, Comité National du Don d’Organes (CNDO). Attitudes towards organ donation and relation to wish to donate posthumously. Swiss Med Wkly. 2017;147:w14401.
5 Kesselring A, Kainz M, Kiss A. Traumatic memories of relatives regarding brain death, request for organ donation and interactions with professionals in the ICU. Am J Transplant. 2007;7(1):211–7.
6 Balthasar A, Müller F. Auswertungen ausgewählter Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2007 zum Bereich Transplantation – Bericht im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Luzern: INTERFACE; 2009.
7 Bundesamt für Gesundheit BAG. Prüfung von Massnahmen zur Erhöhung der Anzahl verfügbarer Organe zu Transplantationszwecken in der Schweiz [Bericht in Erfüllung der Postulate Gutzwiller (10.3703), Amherd (10.3701) und Favre (10.3711)]. Bern: Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Bundesamt für Gesundheit BAG, Direktionsbereich Öffentliche Gesundheit; 2013.
8 Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK-CNE. Zur Widerspruchslösung im Bereich der Organspende – Ethische Erwägungen [Stellungnahme Nr. 19/2012]. Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK-CNE; 2012.