Suizidhilfe

Grundsatz der Autonomie: ein letztes Sakrament?

FMH
Ausgabe
2018/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06871
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(2829):910-912

Affiliations
a Facharzt FMH für Innere Medizin, Rechtsanwalt und Doktor der Rechtswissenschaften, Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf; b Arzt, Chefredaktor der «Revue Médicale Suisse», ehemaliges Mitglied der nationalen Ethikkommission in der Humanmedizin

Publiziert am 10.07.2018

Die Schweiz ist bekannt für ihre liberalen Regelungen zur Suizidbeihilfe. Artikel 115 des Strafgesetzbuches bestraft Verleitung oder Beihilfe zum Suizid nur insoweit, als der Täter aus selbstsüchtigen Beweggründen handelt. Es ist zudem allgemein anerkannt, dass durch Organisationen erbrachte medizinische Beihilfe zum Suizid, nicht aus entsprechenden selbstsüchtigen Beweggründen erfolgt, auch wenn damit unweigerlich finanzielle Aspekte einhergehen.
Aufgrund des beschränkten, wenn nicht sogar lückenhaften Charakters der aktuellen schweizerischen Rechtsvorschriften sind sogar Handlungen, von denen man annehmen kann, dass unsere Gesellschaft sie nicht ­akzeptiert, nicht strafrechtlich relevant. So würde der hypothetische Fall, wenn jemand einem urteilsfähigen 17-jährigen Mädchen medizinische Suizidbeihilfe leisten würde, weil es seinem Leben wegen Liebeskummer ein Ende setzen möchte, wahrscheinlich auf Kritik stos­sen.
Deshalb werden die strafrechtlichen Regelungen seit langem durch die ärztliche Standesordnung ergänzt. Allein Ärztinnen und Ärzte sind beruflich befugt, Pentobarbital-Natrium zu verschreiben, ein Produkt, das bei der medizinischen Suizidbeihilfe eingesetzt wird. Wie vom Bundesgericht bestätigt,1 weist das Verschreibungsmonopol des Arztes den Regeln der medizinischen Standesordnung, die bei der medizinischen Suizidbeihilfe zum Tragen kommen, eine entscheidende Rolle zu.

Richtlinien der SAMW und Standes­ordnung der FMH

Im Zuge ihrer Veröffentlichung im Jahr 2004 und ihrer Aktualisierung im Jahr 2013 wurden die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wis­senschaften (SAMW) namens «Betreuung von Pa­tientinnen und Patienten am Lebensende» in die Standesordnung der FMH2 aufgenommen. Nach diesen Richtlinien steht die medizinische Suizidbeihilfe nur dann im Einklang mit der Standesordnung, wenn «die Erkrankung des Patienten […] die Annahme [rechtfertigt], dass das Lebensende nahe ist»3. Ohne perfekt zu sein, lassen sich mit dieser Regelung Situationen objektivieren, in denen eine medizinische Beihilfe zum Suizid der medizinischen Standesordnung entspricht.
Die Aktivitäten von Sterbehilfeorganisationen – in erster Linie EXIT und Dignitas – betreffen jedoch zu einem erheblichen Teil eben nicht solche Menschen, bei denen die Erkrankung die Annahme rechtfertigt, dass das Lebensende nahe ist. Viele dieser Betroffenen leiden nicht unter Krankheiten, die in absehbarer Zeit tödlich verlaufen werden, sondern es handelt sich vielmehr um Menschen, die des Lebens müde sind und es nicht mehr für lebenswert halten. Angesichts dieser wachsenden Nachfrage änderte die Sterbehilfeorganisation EXIT im Jahr 2014 ohne grösseres Aufheben ihre Bedingungen und erklärte sich nunmehr bereit, ärztliche Beihilfe zum Suizid nicht nur bei Menschen mit ­einer hoffnungs­losen Prognose, einer unzumutbaren Behinderung oder unerträglichen Beschwerden zu leisten, sondern auch bei Menschen, die von «behindernden, altersbedingten Polypathologien» betroffen sind. Diese den medizinischen Lehrbüchern unbekannte ­eigenartige nosologische ­Entität ermöglicht es «lebens­müden» Mitgliedern von EXIT, die gewünschte ärztliche Suizidhilfe zu erhalten.
Bislang betrachtet die Standesordnung der FMH in ihrer um die Richtlinien der SAMW von 2004/2013 ergänzten Fassung eine medizinische Beihilfe zum Suizid als nicht im Einklang mit den Standesregeln stehend, wenn sie unabhängig von einer Erkrankung erfolgt, welche «die Annahme rechtfertigt, dass das Lebensende nahe ist». Diese Anforderung führt – mit dem Vorhandensein einer kurzfristig tödlich verlaufenden Erkrankung – ein objektives Element ein, durch das die Zulässigkeit der ärztlichen Beihilfe zum Suizid nicht allein dem subjektiven Urteil des Patienten oder der Patientin unterliegt.

Eine beunruhigende Verschiebung

Rein logisch betrachtet, gibt es natürlich keinen Grund, die medizinische Beihilfe zum Suizid auf Pa­tienten und Patientinnen zu beschränken, deren Lebensende nahe ist. Theoretisch sollten alle Patienten und Patientinnen, deren Leben «nicht mehr lebenswert» ist, Zugang dazu haben, unabhängig von der Existenz einer kurzfristig unheilvollen Prognose. Darüber hinaus lehrt uns der Grundsatz der Autonomie4 – durch die moderne Bioethik schon fast in den Rang ­eines Sakraments erhoben –, dass nur der Patient oder die Patientin ein Werturteil fällen darf, wonach sein oder ihr Leben nicht mehr lebenswert ist. So sollte allein der Grundsatz der Autonomie und eben nicht der sich nähernde Tod dafür entscheidend sein, in welchen Situationen die ärztliche Beihilfe zum Suizid mit der medizinischen Standesordnung vereinbar ist.
In diesem Kontext hat die SAMW ihre Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod überarbeitet, zwischen November 2017 und Februar 2018 zur Vernehmlassung vorgelegt und am 17. Mai 2018 genehmigt. Die überarbeiteten Richtlinien verzichten auf eine objektive Aussage, wie dem Vorhandensein einer Krankheit, welche die Annahme rechtfertigt, dass das Lebensende nahe ist, und begnügen sich nun mit einem höchst subjek­tiven Kriterium, nämlich dem Vorhandensein «unerträglichen Leidens»5. Der geschickt in einem getrennten Abschnitt der überarbeiteten SAMW-Richt­linien versteckte Begriff des «Leidens» ist dabei sehr weit gefas­st: Neben körperlichen und psychischen Krankheitssymptomen können «Einschränkungen im Alltag und in den sozialen Beziehungen, Verluste sowie das Erleben von Sinn- und Hoffnungslosigkeit […] ­Leiden verursachen»6. Auf eine Anknüpfung an medi­zi­nische Aspekte wird verzichtet: «Leidensursachen können allen Dimensionen menschlichen Lebens entspringen und liegen keineswegs ausschliesslich im ­Zuständigkeitsbereich der Medizin.» Die überarbeiteten SAMW-Richtlinien stellen zudem klar, dass allein der Patient oder die Patientin darüber entscheidet, ob sein oder ihr Leiden unerträglich ist: «Unerträglichkeit kann nur vom Leidenden selbst als solche benannt und ihm nicht von anderen Personen zugeschrieben werden.» Und später: «Die Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen des Patienten sind für diesen Ursache unerträglichen Leidens.» Jegliche Objektivität und jegliche gemeinsame Subjektivität im Hinblick auf die Frage, ob das Leiden unerträglich ist, werden somit auf dem Altar des Grundsatzes der Autonomie geopfert.
In seinem jüngsten Beitrag über die überarbeiteten Richtlinien der SAMW schreibt Professor Christian Kind, dass die Formulierung objektiver medizinischer Kriterien, etwa das bislang anwendbare Kriterium ­einer tödlichen Krankheit, «problematisch» sei. Seiner Meinung nach könnten bei Vorliegen einer tödlichen Krankheit sowohl Patienten als auch Behandelnde «unter Rechtfertigungsdruck geraten, wenn sie die Möglichkeit der Suizidhilfe nicht in Betracht ziehen wollen»7. Andererseits scheint Professor Kind nicht zu befürchten, dass ältere, verletzliche und sich sozial nutzlos fühlende Suizidkandidaten in einer Gesellschaft, die dazu neigt, diese Menschen auszuschliessen, und deren Kriterien für die medizinische Suizidbeihilfe sie zum nunmehr einzigen Richter ihres Leidens bestimmt – ungeachtet der Art dieses Leidens, ob medizinisch oder nicht –, «unter Druck» geraten könnten, zur Tat zu schreiten.

Aufgeben oder Brüderlichkeit?

Die Unterzeichner sind der Überzeugung, dass die dogmatische Anwendung des Grundsatzes der Autonomie, wie sie aus den überarbeiteten SAMW-Richtlinien hervorgeht, einem Aufgeben gleichkommen kann. Dieser Ansatz drängt letztlich die Ärztin oder den Arzt dazu, den Wunsch nach ärztlicher Suizidhilfe als Befehl zu betrachten – wie könnten wir es wagen, dem sakrosankten Grundsatz der Autonomie zu widersprechen? –, statt diesen Wunsch ebenso kritisch wie brüderlich in all seiner Ambivalenz zu betrachten.
Jede Ärztin und jeder Arzt weiss doch, dass der Wunsch nach ärztlicher Beihilfe zum Suizid nie eindeutig ist, sondern eine Analyse erfordert, die über die Dauerhaftigkeit des Wunsches oder die Urteilsfähigkeit hinausgeht. Will der Suizidkandidat oder die Suizidkandidatin wirklich sterben? Oder will die Person vielmehr die Reaktionen ihrer Umgebung auf die Probe stellen, nach Hilfe rufen, Mitgefühl hervorrufen, intensivere medizinische Unterstützung oder menschliche Aufmerksamkeit erhalten? Solange man nicht der Meinung ist, dass Menschen lediglich Automaten sind, darf keine Aussage – gerade im Hinblick auf den Tod – wörtlich verstanden werden. Der Wunsch «Helfen Sie mir, mich umzubringen» ist zwar durchaus im offensichtlichen Sinn zu verstehen, aber eben auch in zahlreichen anderen. Er kann auch bedeuten: «Eigentlich will ich sterben, aber können Sie mir auch etwas anderes anbieten?», «Lässt Sie das gleichgültig?» oder auch «Zeigen Sie mir Ihre Menschlichkeit!». Wie können wir zudem die Tatsache ignorieren, dass ein grosser Teil der Menschen, die sich zum Suizid entscheiden, zum Zeitpunkt ihres Todes an einer psychischen Erkrankung leidet?8 Der einzige Hinweis in den überarbeiteten SAMW-Richtlinien, dass im Falle einer psychischen Erkrankung «die Urteilsfähigkeit durch einen entsprechenden Facharzt evaluiert» werden muss, erscheint in diesem Zusammenhang sehr vereinfachend. Zudem lässt sich die unterstützende Rolle von Sterbehilfeorganisationen, die über eifrige Sterbebegleiter und von ihrer Mission überzeugte Ärztinnen und Ärzte ver­fügen, schwer ignorieren. Ein solches Umfeld scheint unangebracht, wenn man weiss, dass die Ambivalenz der sterbewilligen Person bis zum letzten Moment vor dem tödlichen Schritt andauern kann.
Hiermit soll in keiner Weise gesagt werden, dass dem Wunsch nach ärztlicher Suizidbeihilfe stets widersprochen werden soll: Die Entscheidung des Betroffenen zu respektieren, bleibt von grundlegender Bedeutung. ­Allerdings bedeutet dieser Respekt nicht, dass wir den Grundsatz der Autonomie als Quelle absoluter Wahrheit verstehen: «Ein urteilsfähiges menschliches Wese­n bittet um Beihilfe zum Suizid – also gehorchen wir.» Es gilt auch zu bedenken, dass dieser Grundsatz nicht isoliert, heilig, fern von einem Werte- und Beziehungssystem existiert. Der Grundsatz der Autonomie entbindet uns also keinesfalls von der Notwendigkeit, uns zu kümmern und die lauernde Gleichgültigkeit und Passivität zu überwinden. Zwar ist der Grundsatz der Autonomie ein zentrales Prinzip der medizinischen Praxis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, er darf aber nicht den triumphierenden Individualismus des 21. Jahrhunderts noch verstärken. Mit anderen Worten: Ein wenig menschliche Brüderlichkeit – anstelle einer sterilen Anwendung des wie ein Sakrament behandelten Grundsatzes der Autonomie – dürfte dem Leben eines Patienten oder einer Patientin, der oder die angesichts für unerträglich gehaltener Leiden eindringlich und ernsthaft bittet, sterben zu dürfen, mehr Sinn geben. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass durch den kompletten Wegfall des objektiven Kriteriums einer Krankheit, welche «die Annahme rechtfertigt, dass das Lebensende nahe ist», und durch die Orientierung am rein subjektiven Kriterium von «Leiden, die der Patient oder die Patientin für unerträglich hält», die überarbeiteten SAMW-Richtlinien in die falsch­e Richtung weisen und nicht in die Standes­ordnung der FMH aufgenommen werden dürfen.

Eine entmenschlichende Einsamkeit

Welche Entscheidung die Ärztekammer der FMH in dieser Angelegenheit auch trifft, die Unterzeichner ermutigen ihre Kolleginnen und Kollegen, den Rigorismus, den die überarbeiteten SAMW-Richtlinien bei der Anwendung des Grundsatzes der Autonomie fordern, abzulehnen. Zu Ende gedacht, führt dieser Ansatz zu einer ausweglosen, entmenschlichenden, letzten Einsamkeit.
Prof. Philippe Ducor
Faculté de droit de l’Université de Genève
40, boulevard du Pont-d’Arve
CH-1211 Genf 4
philippe.ducor[at]unige.ch