Schutz vor gefälschten Arzneimitteln

FMH
Ausgabe
2018/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06917
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(2829):913-915

Affiliations
a Geschäftsführer / CEO SMVO; b Dr., Leiter Abteilung Digitalisierung / eHealth FMH

Publiziert am 10.07.2018

Mit dem Ziel, Medikamentenfälschungen international wirksamer zu bekämpfen, hat die Schweiz 2011 das Übereinkommen des Europarats über die Fälschung von Arzneimitteln und Medizinprodukten (Medicrime-
Konvention) unterzeichnet. Die Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten, die Herstellung, Lieferung oder das Angebot von gefälschten Arzneimitteln und Medizinprodukten strafrechtlich zu verfolgen. Um das Eindringen von gefälschten Arzneimitteln in die legale Lieferkette zu verhindern, hat die Europäische Union zudem die «Falsified Medicines Directive» in Kraft ­gesetzt, welche unter anderem die Anbringung von  Sicherheitsmerkmalen auf Packungen bestimmter Arzneimittel vorsieht, damit diese auf ihre Echtheit und Unverfälschtheit überprüft werden können. Mit diesen Massnahmen können Arzneimittel bei eine­m Fälschungsverdacht auf dem Weg entlang der Vertriebs­kette, d.h. zum Grossisten, zur Apotheke, zum Spital oder zum Arzt, geprüft und bei Bedarf aus dem Verkehr gezogen werden.
Zwar verfügt die Schweiz mit dem Heilmittelgesetz (HMG) und deren Ausführungsbestimmungen über ­gesetzliche Grundlagen, um die Fälschung von Arzneimitteln strafrechtlich zu verfolgen, jedoch erfordert die Umsetzung der Medicrime-Konvention im Hinblick auf einen gleichwertigen Schutz in der Schweiz wie in der EU weitere Anpassungen im HMG sowie in der Straf­prozessordnung. Eine dieser Anpassungen ist der neue Artikel 17a des HMG, welcher die Anbringung der ­Sicherheitsmerkmale auf Arzneimittelpackungen konkretisiert und ein nationales Datenbanksystem zur Überprüfung der Echtheit der Arzneimittel bei Abgabe und zur Identifizierung der einzelnen Verpackungen vorsieht. Entgegen dem EU-Recht erfolgt nach Art. 17a das Anbringen der Sicherheitsmerkmale auf freiwil­liger Basis, weil die Schweiz nicht Mitglied der EU ist. Allerdings kann der Bundesrat auf dem Verordnungsweg von der Freiwilligkeit absehen, sofern eine Notwendigkeit betreffend die Risiken von Arzneimittelfälschungen besteht. Die Ausführungsbestimmungen werden derzeit durch das Bundesamt für Gesundheit erarbeitet und voraussichtlich Anfang 2019 in Kraft gesetzt.
Für den Aufbau, Betrieb und die Überwachung eines nationalen Datenbanksystems für die Identifikation von Arzneimitteln haben die von der Regulierung betroffenen Verbände im Gesundheitswesen am 4. April 2018 den Schweizer Verband für die Verifizierung von Arzneimitteln (SMVO) gegründet. Da Ärztinnen und Ärzte von der neuen Regulierung gleichwohl betroffen sind, hat sich die FMH mit Beschluss des Zentralvorstandes vom 18. Januar 2018 entschieden, sich an dieser Organisation zu beteiligen.
Das Departement Digitalisierung/eHealth hat mit dem Geschäftsführer der SMVO ein Gespräch geführt über die möglichen Auswirkungen der Regulierung auf die Ärzteschaft.
Nicolas Florin
Herr Florin, hat die Schweiz ein Problem mit Arzneimittelfälschungen, und wieso braucht es eine solche Organisation?
Hierzu habe ich zwei Antworten: 1. Wir wissen nicht, ob und wie gross das Problem in der Schweiz ist, weil uns bisher kein Instrumentarium zur Überprüfung der Echtheit von Arzneimitteln zur Verfügung stand. 2. Und falls es so ist, dass wir bisher keine Probleme mit Arzneimittelfälschungen haben, dann müssen wir alle­s daran setzen, dass dies so bleibt. Das geschieht in der Regel nicht, indem man wartet, bis gravierende Fälle auftreten.
Fakt ist, dass die Produktion von gefälschten Arzneimitteln stetig zunimmt und viele Behörden, nicht nur in Europa und den USA, diese Bedrohung sehr ernst nehmen.
Die Schweiz ist nicht verpflichtet, für Produkte, die in der Schweiz zugelassen sind, den EWR-Rechtsakt «Falsified Medicine Directive» (FMD) umzusetzen. Inwieweit ist die Schweiz also betroffen?
Die Schlussfolgerung, dass Produkte, die in der Schweiz zugelassen sind, nicht einer Prüfung unterliegen sollen, ist aus meiner Sicht gefährlich. Wir werden bald, auch in der Schweiz, über Mittel verfügen, mit denen wir das Eindringen von gefährlichen Arzneimittel­fälschungen praktisch ausschliessen könnten. Einzel­-
ne Marktpartner wollen es aber nicht einsetzen, weil das schweizerische Gesetz sie nicht dazu zwingt. In Zukunft wird es schwierig sein, einem möglichen Opfer von gefälschten Arzneimitteln diesen Sachverhalt zu erklären.
Der Bundesrat hat neu im Artikel 17a ein Datenbanksystem vorgesehen. Wie funktioniert das System zur Identifikation von Arzneimittelpackungen genau und wie leistet es einen Beitrag zur Sicherheit von Arzneimitteln?
Das System ist im Grunde genommen denkbar einfach. Die Hersteller verpacken ihre Arzneimittel so, dass die Packung nicht unbemerkt wiederverwendet werden kann. Jede einzelne Arzneimittelpackung wird zudem mit einer Seriennummer versehen, die, zusammen mit dem Produktcode, die Packung sowohl physisch als auch datenbanktechnisch einzigartig macht. Der Hersteller liefert die einzigartigen Daten an das Datenbanksystem. Die abgabeberechtigten Personen können diese einzigartigen Daten durch eine Abfrage an das Datenbanksystem abgleichen und so feststellen, ob es sich um ein echtes oder ein «unbekanntes» Produkt handelt.
Aus den Daten im Datenbanksystem lassen sich potentiell Erkenntnisse im Sinne von Verkaufstransaktionen über die in der Schweiz abgegebenen Arzneimittel gewinnen. Wie werden Datenschutz und -sicherheit für das nationale System sichergestellt?
Der Thematik des Datenschutzes wurde im Rahmen dieses Gesamtprojekts nicht nur aus Sicht der Schweiz, sondern insbesondere in Europa besondere Achtung geschenkt. Einerseits werden zentral, das heisst in der europäischen Datenbank, keine Bewegungsdaten gespei­chert. Anders gesagt, alle von den Herstellern hochgeladenen Seriennummern werden direkt in die Datenbanksysteme der einzelnen Länder weitergeleitet. Packungen, die für verschiedene Länder produziert wurden (Multimarket Packs), von denen es im EU-Raum immer mehr gibt, werden sogar parallel an alle Datenbanksysteme weitergeleitet, über welche die Packung geprüft werden könnte. Auf dieser Stufe Rückschlüsse ziehen zu wollen ist praktisch nicht möglich.
In den Datenbanksystemen der einzelnen Länder werden nur so viele Daten gespeichert, wie notwendig sind, um die Prüfung zu vollziehen. Man weiss also ledig­lich, welche abgabeberechtigten Stellen beim Datenbanksystem Abfragen machen dürfen, wobei nur dann Informationen über einen Prüfungsvorgang zurückbehalten werden, wenn das geprüfte Produkt eine Anomalie aufweist. Die zuständige Behörde und die Zulassungsinhaberin müssen bei begründetem Verdacht Untersuchungen einleiten können. Andere als für die Prüfung notwendige Informationen werden zwischen dem System der abgabeberechtigten Person und Datenbanksystem nicht ausgetauscht.
Eine weitere Feststellung, die gemacht werden kann, ist, dass in keinem der Systeme, weder in der europäischen Datenbank noch in den nationalen Datenbanken «besonders schützenswerte Daten», geschweige denn Personen- oder Patientendaten gespeichert werden bzw. werden dürfen.
Und noch eine letzte Bemerkung. Mit dem Inkrafttreten der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), dem sich die Schweiz anschliessen wird, wird sichergestellt, dass auch nichteuropäische (insbesondere amerikanische) Unternehmen, die Rechen­zentren in Europa betreiben, den Datenschutz ernst nehmen müssen. Das ist mit ein Grund, weshalb die «Falsified Medicines Directive» verlangt, dass Datenbanksyste­me sich physisch in einem EWR-Land befinden müssen.
Welche Veränderungen erwarten Sie betreffend die selbstdispensierenden Ärztinnen und Ärzte?
Bevor man von Veränderungen spricht, muss man die bestehenden Prozesse in den Arztpraxen genau kenne­n. Eine der Aufgaben der SMVO ist es, wie bei den Apotheken, die Software-Dienstleister von Praxislösungen dabei zu unterstützen, dass der Prüfungsvorgang möglichst nahtlos in die bestehende Prozesslandschaft einfliesst.
In allen Praxen werden Medikamente abgegeben, um die Notfall- und Grundversorgung überall und zu jeder Zeit sicherzustellen. Praxen ohne Selbstdispensation setzen aber kleinere Volumina um, so dass neue betriebswirtschaftliche Kosten kaum zumutbar sind. Was bedeutet die neue Regulierung für diese Praxen?
Bei der angedachten Lösung handelt es sich um ein «End-to-End»-Prüfsystem. Die für die Prüfung notwendigen Informationen werden ganz am Anfang der Liefer­kette durch den Hersteller bereitgestellt, und die eigentliche Prüfung sollte möglichst nahe an der Abgabe am Patienten erfolgen. Damit wird das Risiko, ein gefälschtes Produkt abzugeben, praktisch ausgeschlossen. Je weiter weg vom Patienten die Dekommissionierung vorgenommen wird, desto einfacher lassen sich gefälschte Produkte in die Lieferkette einschleusen.
Lassen Sie mich Beispiele erläutern, die aus meiner Sicht der Realität vieler Arztpraxen entspricht.
Beispiel 1: Viele nicht selbstdispensierende Ärzte arbeiten eng mit Apotheken oder Spitälern zusammen. Ich gehe davon aus, dass in solchen Fällen die Apotheke oder die Spitalapotheke das Dekommissionieren der Arzneimittelpackungen vornehmen wird, so dass sich für diese Ärzte nichts ändert.
Beispiel 2: Einige Arztpraxen führen, auch wenn sie nicht kommerziell mit Medikamenten handeln, ein mehr oder weniger grosses Lager. In diesen Fällen darf davon ausgegangen werden, dass eine minimale Lagerbewirtschaftung stattfindet. Es gibt eine Wareneingangskontrolle; möglicherweise werden dort manuell das Verfalldatum und die Chargennummer erfasst. Neu müsste beim Wareneingang lediglich der Data­matrix-Code gescannt werden, und die Arbeit wäre präzise und fehlerfrei erledigt.
Zudem sind in der europäischen Direktive, unter dem Art. 23 Fälle aufgeführt, wo die Dekommissionierung über den Grossisten vorgenommen werden kann. Ich gehe davon aus, dass die schweizerische Verordnung Ähnliches vorsehen wird. Im Endeffekt wird es darum gehen, dass die Partner in der Wertschöpfungskette die bestmögliche und günstigste Lösung implemen­tieren.
Welche Veränderungen erwarten Sie für die Spitäler? Sind die Ärztinnen und Ärzte im stationären Umfeld direkt betroffen?
Aus meiner Sicht sind die Ärztinnen und Ärzte im ­stationären Umfeld überhaupt nicht betroffen. In der Regel sind sie auch nicht für die Medikamentenabgabe zuständig.
Spitäler bzw. Spitalapotheken an sich stehen aber vor einer grösseren Herausforderung. Aus meiner Sicht muss man gemeinsam mit den betroffenen Experten, den Software-Dienstleistern und den Partnern in der Lieferkette nach Lösungen suchen, die umsetzbar, wirtschaftlich und zweckerfüllend sind.
Mit der Umsetzung des EWR-Rechtsaktes in der Schweiz entstehen für SD-Praxen, die Medikamente an Patientinnen und Patienten abgeben, potentiell finanzielle Aufwände. Welche Antwort können Sie unseren Ärztinnen und Ärzten geben?
Wenn ich davon ausgehe, dass sich in den nächsten Jahren die Digitalisierung in den Arztpraxen weiterentwickeln wird, wäre es falsch, die Investitionen ausschliesslich mit der «Falsified Medicine Directive» in Verbindung zu bringen. Im Gegenteil. Die Beschaffung eines Scanners, mit dem die Echtheitsprüfung vorgenommen wird, ermöglicht auch eine effiziente Lagerbewirtschaftung (Verfalldatenkontrolle und -management, Chargenmanagement bei Produktrückrufen inkl. der gezielten Information an betroffene Patienten), eine sichere und automatisierte Abrechnung abgegebener oder verabreichter Arzneimittel mit der Krankenkasse, eine sichere und automatisierte Übertragung abgegebener oder verabreichter Arzneimittel in das Elektronische Patientendossier usw. usw.
Mit der behördlichen «Zwangseinführung» des Datamatrix-Codes – nicht nur für Arzneimittel, sondern auch für medizintechnische Produkte – erhalten alle Akteure im Gesundheitswesen die einmalige Chance, längst fällige Prozessoptimierungen über die gesamte Lieferkette von Informationen und Produkten vorzunehmen. Der gemeinsame Nenner Datamatrix-Code, kombiniert mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, würde meiner Ansicht nach die Investitionskosten in den Wind schlagen.
Dr. Reinhold Sojer
Leiter Abteilung Digitalisierung / eHealth FMH
Elfenstrasse 18
Postfach 300
CH-3000 Bern 15
Tel. 031 359 12 04
reinhold.sojer[at]fmh.ch

Nicolas Florin
Geschäftsführer / CEO
SMVO
Baarerstrasse 2
CH-6302 Zug