Grundlagenpapier der DDQ/SAQM

Interprofessionelle Zusammenarbeit aus Qualitätssicht

FMH
Ausgabe
2018/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17276
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(44):1524-1529

Affiliations
a lic. phil. hum., wissenschaftliche Mitarbeiterin DDQ/SAQM; b lic. rer. oec., Leiterin Abteilung DDQ; c Dr. med., Vizepräsident der FMH, Departementsverantwortlicher DDQ/SAQM

Publiziert am 31.10.2018

Die Abteilung Daten, Demographie und Qualität (DDQ) der FMH erstellt basierend auf wissenschaftlicher Literatur Grundlagenpapiere zu verschiedenen Qualitätsthemen, die in der Schweizerischen Ärztezeitung veröffentlicht werden. Die FMH nimmt auf der Basis der erarbeiteten Grundlagen mit dem Dokument «Die Position der FMH» öffentlich Stellung zum Thema. Nachfolgend werden das Grund­lagenpapier sowie die Position der FMH zum Thema «Interprofessionelle Zusammenarbeit IPZ» aus Qualitätssicht präsentiert.
Zusammenkommen ist ein Beginn, zusammenbleiben ist ein Fortschritt, zusammenarbeiten ist ein Erfolg.
Henry Ford
Interprofessionelle Zusammenarbeit IPZ hat im praktischen Alltag des Gesundheitswesens schon immer stattgefunden. Das Interesse am Thema IPZ (engl. interprofessional collaboration) hat aber in den letzten Jahren sehr stark zugenommen. Abbildung 1 illustriert dies beispielhaft: Im Jahr 2017 erschienen 224 Artikel zu IPZ in der Datenbank PubMed. Damit hat sich die Anzahl Pu­blikationen zwischen 2010 und 2017 fast verfünffacht.1

Zusammenfassung

Mit interprofessioneller Zusammenarbeit IPZ ist die Zusammenarbeit von mehreren Personen mit unterschiedlichem beruflichem Hintergrund gemeint. Allerdings besteht kein Konsens darüber, was konkret unter Zusammenarbeit verstanden wird. Auch werden mit IPZ unterschiedliche Ziele ­angestrebt: Sicherstellung einer koordinierten Versorgung, Umgang mit drohendem Mangel an Gesundheitsfachpersonen, Besserstellung nicht­ärztlicher Berufe und Verbesserung der Versorgungsqualität und Patientensicherheit.
In der Praxis findet IPZ je nach klinischem Kontext und Situation der Patien­ten* in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität statt. Dabei spielen verschiedene Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen (einzelne Fachpersonen, Interaktionen zwischen diesen, organisationaler Kontext und gesellschaftliches System) eine Rolle.
IPZ wird durch Bildung, organisationale und praxisbasierte Interventionen gefördert, häufig als Teil von Qualitätsinterventionen, wie z.B. interprofessionelle Behandlungspfade, Peer-Reviews oder Qualitätszirkel, oder als Teil eines integrierten Versorgungsmodells. Ob und unter welchen Umständen IPZ zu einer höheren Patientensicherheit und einer qualitativ besseren Patientenversorgung beitragen kann und in welchem Kosten-Nutzen-Verhältnis sie steht, kann die Forschung zurzeit nicht beantworten.
Diese Entwicklung ist nicht auf den Gesundheits­bereich und die berufsübergreifende Zusammenarbeit beschränkt: Durch die zunehmende Spezialisierung, die rasche Zunahme von Wissen und den Wertewandel in der Arbeitswelt hat die Zusammenarbeit (im Team) in den 1990er und 2000er Jahren in vielen Branchen und Berufen zugenommen [1, 2].
Abbildung 1: Anzahl Artikel zu «Interprofessional Collaboration» im Titel/Abstract auf PubMed (eigene Darstellung).
Was aber erhofft man sich von der IPZ? Dazu gibt es vier unterschiedliche Argumentationslinien, die sich teilweise überschneiden, aber auch zu Zielkonflikten führen können.

a) Notwendigkeit durch zunehmende Spezia­lisierung und Polymorbidität

Die Gesundheitsversorgung ist aufgrund des exponentiell wachsenden Wissens und der damit verbundenen zunehmenden Spezialisierung immer mehr fragmentiert. Häufig sind Fachpersonen unterschiedlicher ­Disziplinen und Gesundheitsorganisationen an der ­Behandlung eines Patienten beteiligt, gerade auch bei Patienten mit chronischen und multiplen Gesundheitsproblemen, deren Anzahl zugenommen hat. Dadurch wird IPZ notwendig [3–5].

b) Notwendigkeit durch Ärztemangel/Kosteneinsparungen

IPZ wird – unter anderem von der WHO [4] – als eine Strategie gesehen, dem sich abzeichnenden Mangel an Gesundheitsfachpersonen, insbesondere an Hausärzten, zu begegnen. Andere Berufsgruppen sollen bestimmte Aufgaben der Ärzte übernehmen oder sie in der Administration entlasten, damit deren zeitliche Ressourcen gezielter eingesetzt werden können. Damit verbunden ist teilweise auch die Erwartung, dass die Gesundheitsversorgung auf diese Weise kostengünstiger wird [5, 6].

c) Nichtärztliche Berufe besserstellen

IPZ wird auch als eine Möglichkeit gesehen, um nichtärztliche Berufsgruppen (insbesondere der Pflege) besserzustellen, mit dem Ziel, Hierarchien abzubauen, ­eigenverantwortliche Kompetenzbereiche zu definieren und die Attraktivität des Berufs zu steigern [7, 8].

d) Bessere Qualität, Patientensicherheit und mehr Patientenzentriertheit

Gesundheitsfachleute sehen die IPZ als eine Möglichkeit, die Qualität der Gesundheitsversorgung und die Patientensicherheit zu verbessern sowie patientenzentriert und ganzheitlich zu arbeiten [4, 9].
Das Grundlagenpapier geht von der letztgenannten Betrachtungsweise aus, ohne damit die anderen Sichtweisen auszuschliessen. Es hat zum Ziel, eine Übersicht über das Thema IPZ im Hinblick auf die Qualität der ­Gesundheitsversorgung zu geben. Es zeigt auf, weshalb das Thema aktuell ist, inwiefern IPZ für Qualitätsfragen relevant ist, ob das Ziel der Qualitätsverbesserung erreicht und wie IPZ in Projekten umgesetzt wird. Es soll die nötigen wissenschaftlichen Grundlagen liefern für Ärzteorganisationen, Ärzte und weitere Interessierte, die sich vertieft mit IPZ auseinandersetzen möchten.
Nur am Rande eingegangen wird auf das eng mit IPZ verbundene Thema der interprofessionellen Bildung und ebenso wenig auf die Diskussion zu einer anderen Verteilung von Aufgaben unter den Gesundheits­fachpersonen (z.B. Übernahme ärztlicher Tätigkeiten durch Advanced Practice Nurses).

1. Definition von IPZ – ein Konstrukt mit unterschiedlichen Deutungen

Eine Einigkeit, was unter IPZ zu verstehen ist, besteht leider nur darin, dass es keine Einigkeit gibt. Forscher beklagen sich, dass das Konzept gar nicht definiert wird oder die Definition unklar ist und der Begriff nicht zu Determinanten, Prozessen und Outcomes abgegrenzt wird [10, 11]. Die WHO [12] verwendet folgende Definition: «Collaboration occurs when two or more individuals from different backgrounds with complementary skills interact to create a shared understanding that none had previously possessed or could have come to on their own.»2 Unbestritten ist, dass mindestens zwei Personen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen involviert sind.3 Darüber hinaus bezeichnet die WHO zwei weitere Elemente in ihrer Definition: Interaktion und geteiltes Verständnis. In einem Review von konzeptuellen Modellen von IPZ nennen ­Gagliardi und Kollegen [13] zusätzlich zur Interaktion geteilte Behandlungsziele und geteilte Entscheidungen, während D’Amour und Kollegen in ihrer Übersicht über verwendete Definitionen IPZ als Prozess beschreiben und dabei folgende Elemente nennen:
– Teilen: z.B. von Verantwortung, Entscheidungen, Werten, Planung, Perspektiven etc.
– Partnerschaft: z.B. beschrieben als kollegiale Beziehung, offene Kommunikation, Vertrauen und Re­spekt, Bewusstsein für die Perspektive und den Beitrag der anderen
– Interdependenz: Bewusstsein, dass Fachpersonen für die Zielerreichung voneinander abhängig sind
– Macht: z.B. geteilt zwischen Teammitgliedern, nicht auf Hierarchie beruhend
Was genau IPZ ausmacht, bleibt also diffus. Dies widerspiegelt sich auch in den Beschreibungen und De­fini­tionen [3, 12, 14]: IPZ ist mehr als die Summe der einzelnen Kompetenzen der involvierten Fachper­sonen, und bei IPZ geht es um mehr als Koordination, Kooperation und Kommunikation, und zwar um Synergien und die Schaffung von Neuem.
Aber nicht nur die einzelnen Elemente der Definition sind umstritten, sondern auch von welcher Intensität der Zusammenarbeit ausgegangen wird. Careau und Kollegen [15] haben deshalb ein Modell von fünf Typen von IPZ entwickelt, welche sie auf einem Kontinuum von zunehmender Komplexität und Intensität darstellen (siehe Abb. 2). Das Modell wurde spezifisch für den Bereich der Rehabilitation entwickelt, lässt sich aber vermutlich auch auf andere klinische Settings übertragen. Der erste Typ stellt die völlig unabhängige Versorgung der Patienten durch die Gesundheitsfachpersonen dar. Diese arbeiten, im Sinne von Shared Decision Making4, mit den Patienten zusammen. Die Typen 2–5 sind im weiteren Sinne alles Formen von IPZ, welche in der Praxis flexibel auf die Situation und die Be­dürfnisse der Patienten und ihrer Angehörigen ab­gestimmt angewandt werden. Unter IPZ im engeren Sinne wird hingegen nur Typ 5 der geteilten Gesundheitsversorgung verstanden.
Abbildung 2: Kontinuum interprofessioneller Zusammenarbeit gemäss Careau und Kollegen [15].
IPZ ist stark vom Setting respektive vom Kontext abhängig. In der Chirurgie oder Intensivmedizin findet IPZ in klar definierten und aufeinander abgestimmten Handlungsmustern unter Leitung der Ärzte statt. Während es im Rahmen von temporären oder anspruchsvoll organisierten Projekten/Gefässen, wie z.B. einem runden Tisch, Tumorboards oder anderen Kommunikationsgefässen, vor allem um die Abstimmung und Koordination geht, suchen in der Palliativversorgung verschiedene Professionen gemeinsam mit dem Patien­ten nach sehr individuellen Lösungen, ohne dass dabei eine Profession dominiert [8].
Zu dieser vielfältigen Begriffsanwendung kommen viele verwandte Konzepte hinzu: inter-, multi- und transdisziplinäre Zusammenarbeit, Teamarbeit, Behandlungskontinuität, koordinierte und integrierte Versorgung [10, 13]. Diese werden teilweise synonym für IPZ verwendet. Teilweise werden mit den Begriffen auch verwandte, nicht aber deckungsgleiche Konzepte bezeichnet, die häufig ähnlich unklar definiert sind wie IPZ.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Qualität von IPZ unterschiedlich wahrgenommen wird. Pflegende und Assistenzärzte beurteilten die Qualität der Teamarbeit schlechter als Kaderärzte [17]. Makary und Kollegen [18] zeigten, dass Chirurgen die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen als sehr gut beurteilten, während umgekehrt Pflegende die Zusammenarbeit mit Chirurgen vergleichsweise schlechter beurteilten. Ein möglicher Grund für die unterschiedliche Beurteilung liege darin, dass Pflegende IPZ so verstünden, dass ihre Inputs ernst genommen würden, während Ärzte IPZ als gut beurteilten, wenn ihre Anweisungen befolgt und ihre Bedürfnisse antizipiert würden.

2. Wirksamkeit von IPZ – viel Forschung, wenig Antworten

Bei patientensicherheitsrelevanten Vorfällen spielen häufig Fehler in der Zusammenarbeit und Kommunikation eine Rolle [5, 19, 20]. So gab es in retrospektiven Studien zu Zwischenfällen in 22–32% der Fälle Probleme im Bereich der Kommunikation und Teamarbeit [17]. Gesundheitsfachleute erwarten deshalb, dass sie durch eine Verbesserung der IPZ die Patientensicherheit erhöhen, qualitativ bessere und ganzheitlichere Entscheidungen fällen, koordinierter und damit zielgerichteter die Patienten versorgen können und damit zu einer besseren Qualität der Gesundheitsversorgung beitragen. So forderte auch das Institute of Medicine in seinem bekannten Bericht «Crossing the quality chasm: A new health system for the 21st century» von 2001 mehr Kooperation und eine gute Kommunikation, welche das Wissen und die Erfahrung aller Teammitglieder einbezieht [3].
Im Moment herrscht deshalb grosser Enthusiasmus für IPZ wie auch allgemein fürs Arbeiten im Team. Viele Menschen arbeiten gerne mit anderen zusammen, da es ein grundlegendes Bedürfnis nach Geselligkeit und Einflussnahme befriedigt. Es fördert das Lernen voneinander, und Rückmeldungen werden besser verarbeitet [21]. Aus der sozialpsychologischen Forschung sind aber auch verschiedene gruppendyna­mische Prozesse bekannt, durch welche Teams teilweise weniger Ideen generieren, es zu einer Reduktion der Anstrengung kommt, nicht die besten Lösungen gefunden und nicht unbedingt die besten Entschei­dungen getroffen werden [1, 14, 21, 22]. Die Idee, dass IPZ automatisch zu besseren Entscheidungen, Teamleistungen und Patientenoutcomes führt, entspricht deshalb wohl kaum der Realität. Die Frage müsste vielmehr lauten: Unter welchen Umständen führt welche Form von IPZ zu einer qualitativ besseren Patientenversorgung?
Von der Beantwortung dieser Frage ist die Forschung leider noch weit entfernt. Zwar gibt es sehr viel Forschung aus vielen Disziplinen (Psychologie, Erziehungswissenschaften, Soziologie, Medizin, Pflege etc.) zu IPZ und verwandten Konzepten. Brandt und Kol­legen 2014 [23] führen zu ihrem eigenen Review 16 ­weitere Literaturreviews zum Themenbereich Interprofessionalität auf. Allerdings gibt es sehr wenige ­Forschungsarbeiten zu Patientenoutcomes und zum Kosten-Nutzen-Verhältnis. Ein Cochrane Review [11] zu neun IPZ-Interventionen kommt zum Schluss, dass es nicht genügend Evidenz für deren Wirksamkeit gibt, obwohl einige Studien einen Effekt auf die Versorgungsqualität nachweisen können. Bei einer Mehrheit von IPZ-Interventions-Studien in einem Review zu allgemeinen Spitalabteilungen [24] konnte kein Einfluss auf die Länge des Aufenthalts, Rehospitalisationsraten und Mortalität nachgewiesen werden. In Bezug auf eine Reduktion der Komplikationen lässt sich eher ein Effekt erwarten: In der Hälfte der IPZ-Interventions-Studien wurden diese reduziert. Ein Review [25] spezifisch zu IPZ bei älteren Personen in der ambulanten Versorgung zeigt bei den meisten Studien verbesserte Prozessoutcomes und eine höhere Patientenzufriedenheit sowie bei der Hälfte der elf Studien verbesserte Gesundheits- und funktionale Outcomes. Eine Studie im Auftrag des BAG [26] zeigt ebenfalls, dass die bisherige Evidenz keine gesicherten Aussagen zu einer Verbesserung von Patientenoutcomes zulässt, dass es aber zahlreiche qualitative Studien gibt, die z.B. auf eine ­höhere Zufriedenheit der Gesundheitsfachpersonen (insbesondere der nichtärztlichen), eine umfassendere Betreuung der Patienten, kürzere Wartezeiten, eine Verbesserung des Selbstmanagements und der Patientenzufriedenheit hindeuten.
Insgesamt führen die Studien also zu widersprüch­lichen Resultaten, und die Qualität der Studien lässt keine klaren Schlüsse in Bezug auf die postulierte Verbesserung der Patientensicherheit und der Qualität der ­Patientenversorgung zu. Dies hat verschiedene Gründe [11, 14, 27]:
– Fehlender Konsens zu den Begriffen und Definitionen, was ein Vergleich der verschiedenen Studien erschwert.
– Mangelnder Einbezug von konkreten, aus Theorien abgeleiteten Hypothesen
– Fehlende Forschung zu den Prozessen der IPZ und fehlende Erhebungsinstrumente
– Der Aspekt der Interprofessionalität ist häufig ein Teil von multimodalen Qualitätsinterventionen (z.B. Pa­tientenpfade, Checklisten etc.), so dass die spezifische Wirkung von IPZ nicht vom Ansatz an sich zu unterscheiden ist.
– Sehr allgemein gehaltene Ziele von Interventionsstudien ohne angemessene Abstimmung mit den gewählten Outcomes und Messzeiträumen
– Viele IPZ-Interventionen mit einfachem Vorher-Nachher-Vergleich ohne Vergleichsgruppe, so dass keine Rückschlüsse auf die Wirksamkeit möglich sind.
– Grosse Variabilität in Bezug auf die involvierten Fachleute, klinischen Kontexte und Patientenpopulationen

3. Förderliche und hinderliche Bedin­gungen für IPZ

Für die praktische Umsetzung ist es wichtig, zu wissen, welche Bedingungen für die IPZ förderlich und welche hinderlich sind. Dazu gibt es viel qualitative Forschung, Arbeiten basierend auf der Literatur aus verwandten Forschungsgebieten (ohne Nachweis der Übertragbarkeit) und Expertenmeinungen. Ausgehend vom Modell von D’Amour und Oandasan [4] sind in Abbildung 3 verschiedene Einflussfaktoren auf IPZ [1, 5, 28–30] dargestellt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Insgesamt gibt es aber nur ungenügend Evidenz, welche dieser Einflussfaktoren IPZ wie stark begünstigen oder unter welchen Umständen sie relevant sind [29].
Abbildung 3: Postulierte Einflussfaktoren auf die IPZ [1, 4, 5, 28–30].
Im Mittelpunkt des Modells stehen der Patient und seine Angehörigen, da alle Beteiligten das Ziel einer optimalen Versorgung gemeinsam mit dem Patienten verfolgen. IPZ wird deshalb deutlich erschwert, wenn dieses gemeinsame Ziel durch eine Art «Revierkampf» zwischen den Berufsgruppen überschattet wird [31]. Darüber hinaus gelingt IPZ eher, wenn innerhalb des IPZ-Teams eine abgestimmte Sichtweise auf den Pa­tienten hergestellt werden kann und wenn die Teammitglieder auf eine ähnliche Art Informationen gewinnen, analysieren und darauf reagieren (sogenanntes «shared mental model»). Die Teammitglieder verfügen über geteilte aufgabenspezifische Informationen, aufgabenbezogenes Wissen, Wissen über Teammitglieder und ihre Rollen und geteilte Einstellungen und Überzeugungen [1]. Unterschiedliche Konzepte, Wahrnehmungen und Prioritäten in der Behandlung, wie z.B. eine biomedizinische gegenüber einer psychosozialen Sichtweise, sind hingegen eine Herausforderung für die IPZ [9].
Im nächsten Ring des Modells wird mit der Aufgabenschwierigkeit angedeutet, dass die Intensität der IPZ flexibel an die Komplexität der Situation (siehe Abb. 2) angepasst werden muss. IPZ hängt entscheidend von den beteiligten Gesundheitsfachpersonen ab. Grund­legend sind der Wille zur Zusammenarbeit und der Respekt für das Wissen und für die Kompetenzen anderer Fachpersonen. Durch interprofessionelle Aus- und Weiterbildung sollen die Gesundheitsfachpersonen die nötigen Kompetenzen und das nötige Verständnis für IPZ erwerben [12]. IPZ wird aber auch von verschiedenen interaktionalen Faktoren innerhalb des Teams, von organisationalen sowie von systemischen Faktoren auf Ebene des Gesundheits- und Bildungssystems, der Politik und der Gesellschaft beeinflusst. Zum Beispiel kann ein Finanzierungssystem mehr oder weniger Anreiz für eine Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsfachpersonen bieten [31].
Zentral für IPZ ist die Kommunikation zwischen den Teammitgliedern, sei es, dass relevante Informationen von allen Teammitgliedern geäussert (Speak-up) und einbezogen werden [1, 32] oder dass interprofessionelle Meetings optimal geleitet und moderiert werden. Hilfreich für den gegenseitigen Austausch sind kontinuierliche Beziehungen der Teammitglieder, nahe Distanzen am Arbeitsort, standardisierte Prozesse und IPZ unterstützende Organisationsgefässe, wie z.B. Tumorboards oder Qualitätszirkel [3, 8].
IPZ wird mit vielen verschiedenen Ansätzen umgesetzt, häufig als Teil von multimodalen Interventionen oder auch als verwandte Modelle wie Case Management oder integrierte Versorgung [25]. Reeves [11, 27] unterscheidet folgende Interventionsarten:
– Bildungsbasierte Interventionen: Aus- / Weiter- und Fortbildung
• Seminare, Kurse
• Simulation, Rollenspiel, Workshop, Praktika
– Organisationale Interventionen: Veränderung auf Ebene Organisation
• Richtlinien, Personalbestimmungen, Organisa­tionskultur, Arbeitsplatz, Konsultationsarrangements
– Praxisbasierte Interventionen: Implementierung eines Tools oder Routine am Arbeitsplatz
• Interprofessionelle Visiten, Besprechungen, Briefings, Debriefings, Tumorboards, Qualitätszirkel, Audits, Kommunikationstools
• Checklisten, Patientenpfade, Audit, Peer-Review, Überweisungsprozesse

4. Diskussion

Das Interesse an IPZ hat in den letzten Jahren stark zugenommen, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis. Teilweise besteht ein regelrechter Enthusiasmus für IPZ, verbunden mit vielfältigen und hohen Erwartungen. Dies hat vermutlich auch damit zu tun, dass viele Menschen, gerade auch im Gesundheits­wesen, gerne mit anderen zusammenarbeiten. Weiter scheint IPZ angesichts einer immer grösser werdenden Anzahl an involvierten Gesundheitsfachpersonen, ­gerade bei Patienten mit multiplen und chronischen Erkrankungen, auch einfach eine Notwendigkeit zu sein. So spielen bei patientensicherheitsrelevanten Vorfällen denn auch häufig Probleme im Bereich der Kommunikation und Teamarbeit eine Rolle. Ob und vor allem unter welchen Umständen sich mit IPZ in der Praxis die Patientensicherheit und die Qualität sowie die Effizienz und das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Versorgung verbessern lassen, kann die Forschung zurzeit noch nicht sagen.
Obwohl es eine unüberblickbare Anzahl an Publikationen zu IPZ und damit verwandten Konzepten gibt, braucht es dringend mehr Forschung. Diese muss ­gezielt die Fragen nach dem Nutzen für die Qualität der Patientenversorgung beantworten. Dafür braucht es grundlegende Arbeiten zur Definition und auf ­verschiedene Kontexte anwendbare Messungen des Kon­struktes. Damit verbunden müssen konkrete, auf Theo­rien basierende Hypothesen zu den Prozessen und Wirkungsweisen von IPZ entwickelt und überprüft werden. Weiter werden mehr qualitativ hoch­stehende Interventionsstudien benötigt, welche eine Vergleichsgruppe haben, auf die Ziele abgestimmte Patientenoutcomes in einem dazu passenden Zeitraum messen und klar auf IPZ ausgerichtet sind.
IPZ ist mit zeitlichem Aufwand verbunden. Wie gross dieser ist, hat die Forschung bisher ebenfalls noch nicht untersucht. Die Intensität der IPZ hängt stark von der konkreten Situation ab und geht von der einfachen Information bis zu einer geteilten Gesundheitsversorgung mit gemeinsamen Entscheidungen und Handlungen. Um die personellen Ressourcen möglichst ­zielgerichtet einzusetzen, empfiehlt sich eine flexible Ausrichtung der Intensität der IPZ an die Bedürfnisse der Patienten und des klinischen Kontexts.
Aus Studien ausserhalb des Gesundheitswesens sowie aus Befragungen von IPZ-Experten sind viele ver­schiedene mögliche Erfolgsfaktoren für eine gelingende IPZ bekannt. Allerdings braucht es auch hier Evidenz, um Aussagen zu deren Relevanz für die Qualität der Patientenversorgung in verschiedenen klinischen Kontexten und Situationen machen zu können. Auf Ebene der Gesundheitsfachpersonen sind Offenheit und ­Respekt gegenüber den verschiedenen Fachpersonen entscheidende Voraussetzungen. Diese sollten mit gemeinsamen interprofessionellen theoretischen und praktischen Ausbildungselementen der Gesundheitsfachpersonen gefördert und IPZ in die Weiter- und Fortbildung einbezogen werden. Auf Ebene der Inter­­aktion haben unter anderem ähnliche Vorstellungen und geteiltes Wissen zu Aufgaben und Rollen der Teammitglieder sowie die Kommunikation zwischen den Teammitgliedern einen Einfluss. Auf Ebene der ­Organisation sind z.B. standardisierte Prozesse oder unterstützende Organisationsgefässe wie Tumorboards hilfreich. Und schliesslich ist auf systemischer Ebene (Gesellschaft, Bildungs- und Gesundheitssystem) unter anderem ein IPZ unterstützendes Finanzierungssystem relevant.
In der Schweiz wurde der Ruf nach mehr IPZ mit verschiedenen Konzepten und Projekten beantwortet, unter anderem mit den folgenden: Die Themengruppe «Interprofessionalität» der durch das Bundesamt für Gesundheit BAG geleiteten Plattform «Zukunft ärzt­liche Bildung» publizierte 2013 ein Konzept für die ­interprofessionelle Ausbildung von Medizinstudie­renden [5], die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften SAMW veröffentlichte 2014 eine Charta «Zusammenarbeit der Fachleute im Gesundheitswesen» [33], und für die Grundversorgung wurde der Verein Plattform Interprofessionalität (www.inter
professionalitaet.ch) gegründet, bei dem die FMH Mitglied ist. Von 2017–2020 werden im Förderprogramm «Interprofessionalität im Gesundheitswesen» des BAG Forschungsprojekte zu Interprofessionalität unterstützt sowie Modelle guter Praxis dokumentiert [34], ähnlich wie die SAMW interprofessionelle Praxisprojekte mit dem SAMW-Award für Interprofessionalität auszeichnet. Unter den vielen Projekten sind auch zwei, an denen die FMH beteiligt ist: Interprofessionelle Arbeitsgruppe Elektronisches Patientendossier und Interprofessionelle Peer Reviews [35]. Ein weiteres interprofessionelles Projekt der Schweizerischen Akademie für Qualität in der Medizin SAQM der FMH ist das Pilotprojekt Sektorenübergreifender Behandlungspfad Kolorektalkarzinom, in welchem zehn ärztliche und zehn nichtärztliche Berufsgruppen einen sektoren- und berufsgruppenübergreifenden Behandlungspfad entwickelt haben (mehr Informationen siehe www.saqm.ch → Qualitätsprojekte). Aktivitäten zur IPZ in der Schweiz sollten koordiniert erfolgen und die betroffenen Gruppen von Gesundheitsfachpersonen miteinbeziehen. Die Projekte müssen sich ausserdem mit der unklaren Definition von IPZ auseinandersetzen und deshalb besonders sorgfältig ihre Ziele festlegen.
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saqm[at]fmh.ch
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