Kommentar zum «Medizintourismus» in der Schweiz

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Ausgabe
2018/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17398
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(49):1738-1739

Publiziert am 05.12.2018

Dass sich ausländische, selbstzahlende Patientinnen und Patienten bei medizinischen Problemen in der Schweiz behandeln lassen, ist nichts Neues. Der sogenannte «incoming» Medizintourismus ist aber noch wenig untersucht, es gibt kaum Daten über dessen Verbreitung, die ökonomische Bedeutung, ethische und rechtliche Her­ausforderungen. Mit Unterstützung der SAMW wurden zwei Studien durchgeführt, die Fragen zur Behandlung von Patientinnen und Patienten untersuchten, die für medizinische Eingriffe in die Schweiz kommen. Die Studienberichte sind publiziert und die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der SAMW nimmt Stellung dazu.
Aus dem Käthe-Zingg-Schwichtenberg (KZS)-Fonds der SAMW wurden 2017 zwei Projekte finanziert, deren Ergebnisse nun veröffentlicht sind (vgl. samw.ch/medi­zintourismus).
Es handelt sich einerseits um das Projekt «Medizintourismus in der Schweiz – Ethische, juristische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen für den stationären Bereich», das von einem Konsortium1 unter der Leitung der Econcept AG ausgearbeitet wurde, und andererseits um das Projekt «Medical tourism in Switzerland: Interdisciplinary exploratory research on ethical, legal and econcomic issues», das von Dr. Pryia Satalkar und Prof. Bernice Elger, Institute of Biomedical Ethics der Universität Basel, durchgeführt wurde.

Relevante Ergebnisse der beiden Studien

Die Zentrale Ethikkommission fasst die aus ihrer Sicht relevanten Ergebnisse der beiden Studien wie folgt zusammen:
«Incoming» Medizintourismus scheint mit Blick auf das Gesamtsystem ein seltenes Phänomen zu sein; mehrheitlich stammen die Patientinnen und Pa­tienten aus den Nachbarländern der Schweiz. Die Tendenz scheint derzeit eher rückläufig zu sein. ­Allerdings ist das Erheben von Zahlen schwierig.
– Das Konsortium kommt zum Schluss, dass im Moment keine mengenmässig relevante Verlegung einheimischer Patientinnen und Patienten zu Gunsten einer prioritären Behandlung von «Medizintouristinnen und -touristen» stattfindet. Wenn eine Verdrängungsgefahr besteht, dann am ehesten beim «Nadelöhr» Intensivstation.2
– Beide Studien betonen, dass Medizintourismus auch positive Effekte zeigt, namentlich die Querfinanzierung von weniger rentablen Medizinbereichen.
– Die Befürchtung, spezifisch mit dem Medizintourismus zusammenhängende ethische Dilemma­situationen seien häufig, wurde in beiden Studien nicht erhärtet. Patientinnen und Patienten, die mit dem Ziel der Behandlung in die Schweiz einreisen, sind in der Regel gut informiert, melden sich gezielt für einen elektiven Eingriff an und begleichen die Leistungen im Voraus. Die Ergebnisse ­beider Studien bestätigen jedoch, dass für alle Beteiligten schwierige und belastende Situationen entstehen können, wenn beispielsweise die medizinischen Vorabklärungen unvollständig waren oder notwendige Nachbehandlungen schwierig sicherzustellen sind.
– Eine besondere Herausforderung stellt das Einholen der informierten Einwilligung dar (keine Kenntnisse der Landessprache und kulturelle Aspekte). Diese Problematik zeigt sich jedoch nicht nur bei Medizintouristinnen und -touristen, sondern trifft generell auf Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturkreisen zu.

Ergänzender Kommentar zu 
den ­juristischen Besonderheiten 
des ­Medizintourismus

Im Kontext des Medizintourismus sind spezifische ­juristische Aspekte relevant. Da die juristische Analyse des Konsortiums diese kaum ausführt, werden sie hier festgehalten:
Für Patientinnen und Patienten, die zum Zweck der ­Behandlung aus dem Ausland in die Schweiz einreisen, sind Bestimmungen des internationalen Privatrechts (IPRG) bedeutsam. Dies kann Folgen haben für die Handlungsfähigkeit des Patienten und seine Vertretungsrechte, für allfällige Kindesschutzmassnahmen und für die Haftung der Leistungserbringer.
– Handlungsfähigkeit: Anwendbar ist das Recht am Wohnsitz des Patienten.3 Dies hat bei minderjährigen Patientinnen und Patienten oftmals zur Folge, dass nicht – wie es nach Schweizer Recht der Fall wäre – das urteilsfähige Kind selbst entscheiden kann, sondern die Eltern. Dabei unterliegt auch die Frage der Sorgeberechtigung dem ausländischen Recht, weshalb die gemeinsame elterliche Sorge nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.
Bei erwachsenen Patientinnen und Patienten be­urteilt sich die Handlungsfähigkeit ebenfalls nach dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts (Wohnsitzes). Das Recht des Herkunftslandes legt also fest, unter welchen Voraussetzungen Patientinnen und Patienten gültige Behandlungsverträge abschlies­sen und in medizinische Behandlungen einwilligen können. Bei Schutzbedürftigen ist nach IPR-­Regeln (bzw. soweit anwendbar nach dem Haager Erwachsenenschutzübereinkommen) zu prüfen, wer welche Massnahmen ergreifen kann bzw. ob im Ausland getroffene Massnahmen (z.B. Beistandschaft, Vorsorgeauftrag) in der Schweiz Wirkung entfalten.
– Auch Patientenverfügungen und Vertretungsrechte bei urteilsunfähigen Erwachsenen mit Wohnsitz im Ausland unterliegen oft ausländischem Recht. Wenn dies ausser Acht gelassen wird, kann es dazu führen, dass aufgrund einer ungültigen Einwil­ligung/Vertretung/Patientenverfügung medizinische Massnahmen vorgenommen oder unterlassen werden.
– Ebenso darf bei Kindesschutzmassnahmen nicht unbesehen auf Schweizer Recht abgestellt werden, vielmehr ist wiederum nach IPR (und unter Berücksichtigung einschlägiger Staatsverträge, u.a. dem Haager Kindesschutzübereinkommen) zu prüfen, welcher Staat welche Massnahmen anordnen kann.
– Haftung: Ein/e Patient/in, der bzw. die einen Behandlungsfehler in einem Schweizer Spital geltend macht, kann dies auch vor den Gerichten des Heimat- oder Wohnsitzstaates tun; dabei ist möglich, dass die dortigen Regeln des IPR eine solche Klage auch dann zulassen, wenn dies nach Schweizer Recht ausgeschlossen wäre. So weichen u.a. die ­Haftungsvoraussetzungen, die Beweisregeln (Beweislast, Beweismass, Beweiswür­digung) sowie die Rechtsfolgen einer Haftung (Stichwort: Punitive Damages) unter Umständen erheblich von der Rechtslage der Schweiz ab.

Fazit der Zentralen Ethikkomimssion

1. Keine medizin-ethischen Richtlinien zum Umgang mit Medizintourismus
Zusammenfassend hält die ZEK fest, dass sie zum ­aktuellen Zeitpunkt keinen Handlungsbedarf sieht, medizin-ethische Richtlinien zum Umgang mit «Medizintouristinnen und -touristen» auszuarbeiten. Sie wird die Entwicklungen aber im Auge behalten.
2. Empfehlung an die Leistungserbringer: Sorgfaltskriterien für den Medizintourismus
Aufgrund der sprachlichen und kulturellen Her­ausforderungen beim Einholen der informierten ­Einwilligung und der dargestellten rechtlich komplexen Ausgangslage empfiehlt die ZEK den Leistungserbringern, die Patientinnen und Patienten mit Wohnsitz im Ausland behandeln, Sorgfaltskriterien festzulegen; insbesondere für die medizinische Vorabklärung dieser Patientinnen und Patienten und deren Information über die Behandlung, das Vorgehen und allfällige Kosten­folgen beim Auftreten von Komplikationen. Medizinische Fachpersonen sind entsprechend zu schulen und zu unterstützen.
3. Empfehlung an die Einrichtungen des Gesundheitswesens und an Fachpersonen in der Aus-, Weiter- und Fortbildung: Auseinandersetzung mit Fragen der Interkulturalität
Die Betreuung von Patientinnen und Patienten, die aus einem anderen Kulturkreis stammen und oft keine der Landessprachen sprechen, aber auch der Einsatz medizinischer Fachpersonen aus anderen Ländern gehören heute zum medizinischen Alltag. Wie eingangs aus­geführt, ist dies kein Medi­zintourismus-spezifisches Thema. Vor diesem Hintergrund ist eine aktive Auseinandersetzung mit Fragen der Interkulturalität nötig: sowohl in der Aus-, Weiter- und Fortbildung aller im Gesundheits­we­sen tätigen Fachpersonen als auch im organi­sationalen Bereich (z.B. Sicherstellen von interkulturellem Dolmetschen).4
lic. iur. Michelle Salathé, MAE
Leitung Ressort Ethik, SAMW
m.salathe[at]samw.ch