«Lest doch!»

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17781
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(20):712

Affiliations
Prof. Dr. theol., Mitglied der Redaktion Ethik

Publiziert am 15.05.2019

«Wie Geschichten uns zu besseren Menschen machen» – so lautet der Untertitel des NZZ Folios auf meinem Frühstückstisch [1]. Und der Titel befiehlt: «Lest doch!» Dem folge ich nur allzu gerne, und so bleiben der ­Computer und meine ganze schöne To-do-Liste diesen Montagmorgen erst einmal unangetastet, weil ich eben erst einmal lesen muss. Interviews über Lesen auf Papier und elektronisch, über die verschiedenen aktiven Gehirnregionen beim Lesen, über Bestseller und Bücher, die das Leben prägten. Und ich kann nicht aufhören, bis ich das Magazin ganz fertiggelesen habe, ­obwohl irgendwo in meinem Hinterkopf eine schwach aktive Gehirnregion versucht, mich daran zu erinnern, dass ich mir eigentlich noch andere Dinge für diesen Morgen vorgenommen hatte.
Das war immer schon so. Ein spannendes Heft oder Buch, und ich war verloren. Die Gestalten in den Büchern waren viel realer als alles, was die Aussenwelt zu bieten hatte: Der tapfere Apache Winnetou, die mutige Zora, George, die darauf bestand, ein Junge zu sein, der schüchterne Bastian Balthasar Bux, der unvergleichliche Harry Potter, später der adelige Lord Peter Wimsey, der visionäre Hari Seldon – das ist das wahre und pralle Leben! Daneben konnten die Hausaufgaben, das nächste Paper, die Vorbereitung der Vorlesungen nur ins Hintertreffen geraten.
Aber das war ja nicht ganz so schlimm, weil Lesen ist ja gut! Ja, es macht mich sogar zu einem besseren Menschen – ist das nicht viel wichtiger als Hausaufgaben und meine To-do-Liste? Und damit kann ich mit allerbestem Gewissen wieder in die Welt meiner Heldinnen und Helden abtauchen und alles andere vergessen.
Nur in ganz nüchternen Momenten beschleicht mich das beunruhigende Gefühl, dass es vielleicht doch nicht ganz so einfach sein könnte. Gute Bücher und Geschichten sind spannend, ziehen hinein, treiben weiter, sind rund und finden ein Ende. Die Welt da draussen ist öfters nicht spannend, verlangt einen Effort von mir, überfordert mich mit ihrer Komplexität, hat viel zu viele Brüche, hört nicht auf. Im Buch handelt, schwitzt, leidet ein anderer, im Leben bin ich es. Was Wunder, dass ich mich lieber in die Geschichten flüchte. Eine Flucht ist es tatsächlich, ein Ausblenden der fordernden Wirklichkeit und ein Verdrängen dessen, wozu ich mich selber aufraffen müsste. Ist Lesen wirklich so gut? Was unterscheidet die Lesesucht von anderen Süchten, anderen Fluchten – ausser dass sie keine körperlichen Nebenwirkungen hat? Umso mehr hat sie geistige Nebenwirkungen, sie verleitet dazu, auch die Welt ausserhalb der Bücher geschichtenförmig sehen zu wollen: Es muss Menschen geben, mit ­denen ich mich identifizieren kann, Storys, in die ich hineingezogen werde. Gut erzählte Geschichten wie die von Stephen Hawking, von Michelle Obama, von Freddie Mercury, von Greta Thunberg. Clevere Journalisten wie Claas Relotius haben dies nur noch etwas weitergetrieben und auch dort pralle Geschichten daraus gemacht, wo erst mal nur das Leben war, weniger prall, weniger rund, weniger spannend.
Also muss ich mir jetzt das Lesen abgewöhnen? Und meine Tochter, die gerade intensiv mit Harry Potter, Charlie Bone, den Karlsson-Kindern und ihren eigenen erfundenen Heldinnen unterwegs ist, von diesen Geschichten wegführen, hin zur wirklichen Welt der Schule, der Klimaerwärmung und der politischen Komplexitäten?
Die Autoren und Autorinnen des NZZ Folios behaupten hier allerdings, das hätte seit jeher miteinander zu tun. Die Leserin «fliegt, ohne wirklich zu fliegen. Und kann später auf diese Erfahrung zurückgreifen»[1]. Und: «Wir können uns Wissen erschliessen, dieses Wissen vertiefen, ausbauen und uns in neue Gebiete entführen lassen, die wir bisher nicht kannten»[2].
Gute Geschichten, so lese ich daraus, haben immer auch mit mir zu tun. Es sind nicht nur die Heldinnen und Helden in den Büchern, die etwas erleben, sondern dabei auch ich. Ich sehe, fühle und erlebe selber im Erleben ­eines anderen – und somit erlebe ich über mich hinaus. Ich lebe das Leben eines anderen. Und werde dadurch eine andere, nicht nur für die Dauer der Lektüre, sondern darüber hinaus. Empathischer, sagen die Wissenschaftlerinnen, kreativer, innovativer, mutiger. Und ­damit genau das, was die Welt da draussen nötig hat.
Also: Lest doch! Bücher und Geschichten, Zeitschriften und Folios! Und so tauche ich beruhigt wieder ab in das spannende Buch von der autistischen Ermittlerin Genevieve Lenard, die mich ihre nicht neurotypische Weise des Denkens erleben lässt. Welt, ich bin dann mal weg.
christina.ausderau[at]saez.ch
1 Puntas Bernet D. Neruda und Ich. NZZ Folio. April 2019;333:45.
2 Wolf M. Wir bekommen Twitter-Gehirne. NZZ Folio. April 2019;
333:30.