Interview mit dem scheidenden SÄZ-Chefredaktor Bruno Kesseli

«Zwei Seelen in meiner Brust»

Tribüne
Ausgabe
2019/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17901
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(2324):810-813

Affiliations
Freier Journalist

Publiziert am 04.06.2019

Bruno Kesseli prägte als Chefredaktor die Schweizerische Ärztezeitung dreizehn Jahre lang entscheidend mit. Jetzt will er nochmals voll und ganz Hausarzt sein. Ein Gespräch über die Rolle der SÄZ und seine Sicht auf Ärzteschaft und Gesundheitswesen.
Vom Teilzeit- zum Vollzeit-Hausarzt: Bruno Kesseli beim Interview in der Praxis.
Bruno Kesseli, Sie sind seit dreizehn Jahren Chef­redaktor der Schweizerischen Ärztezeitung – und daneben als praktizierender Arzt tätig. Ende Juli verlassen Sie die SÄZ, um wieder Vollzeit als Hausarzt zu arbeiten. Warum?
Ich habe zwei Seelen in meiner Brust – eine medizinische und eine journalistische. Seit meinem Antritt als Chefredaktor der SÄZ war ich meist parallel dazu auch als Hausarzt tätig. Seit fünf Jahren bin ich Teil einer Praxisgemeinschaft in Affoltern am Albis. Zuerst umfasste dies zwei Halbtage pro Woche, was sich für die Patienten wie auch für die Integration im Team als zu wenig erwies. Deshalb erhöhte ich mein Pensum auf zwei Tage pro Woche. Dies führte dazu, dass ich in meiner Wahrnehmung in der SÄZ-Redaktion und auf dem gesundheitspolitischen Parkett zu wenig präsent war. Deshalb musste ich mich entscheiden. Ich gehe mit ­einem weinenden Auge, denn ich hatte bei der SÄZ ­einen spannenden und vielseitigen Job. Aber nach dreizehn Jahren als Chefredaktor möchte ich nochmals ganz Hausarzt sein.
Medizin und Journalismus: Seit wann gibt es diese zwei Seelen in Ihrer Brust?
Schon als Kind war ich meist der Medizinmann, wenn wir «Indianerlis» spielten. Andererseits gab ich in der Primarschule als Berufswunsch «Auslandkorrespondent» an – wohl auch, weil ich es «cool» fand, dieses Wort überhaupt zu kennen. Nach der Matura überlegte ich, Medizin zu studieren. Das aufwendige Studium schreckte mich aber ab, ich war etwas schulmüde. So begann ich als Journalist zu schreiben – zunächst über Sport und später vorwiegend über Kultur. Parallel ­studierte ich unter anderem Germanistik. Zehn Jahre später stellte ich fest: Der Wunsch, Arzt zu werden, war immer noch da. Deshalb studierte ich als 30-Jähriger doch noch Medizin.
Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen den beiden Berufen Arzt und Journalist?
Beide beschäftigen sich intensiv mit Menschen. Im Studium der Geisteswissenschaften wie auch der ­Medizin stand für mich dieselbe Frage im Zentrum: Was macht den Menschen aus, wie funktioniert er, was treibt ihn an? Die beiden Studiengänge haben sich für mich sehr gut ergänzt, denn diese Fragen geht man ­natürlich in den beiden Fächern ganz unterschiedlich an. Die Gedankenwelt eines Menschen lässt sich nicht mit Hirnstrommessungen erfassen. Eine wichtige ­Gemeinsamkeit von Journalismus und Medizin ist ­zudem, dass es um Geschichten geht. Gerade als Hausarzt hört man täglich ein unglaubliches Spektrum an Geschichten.
Sie waren nach dem Medizinstudium als Arzt und weiterhin als freier Journalist tätig. 2005 war dann die Stelle als Chefredaktor der SÄZ ausgeschrieben. Die perfekte Verbindung der beiden Welten?
Ja, das Stellenprofil war sehr attraktiv und passte gut zu meinen Fähigkeiten und Neigungen. Wichtig waren für mich auch die Arbeitsbedingungen. Ich war damals Oberarzt beim Stadtärztlichen Dienst Zürich und hatte gleichzeitig in bescheidenem Umfang eine eigene Praxis­tätigkeit aufgenommen. Das war arbeitsintensiv, und ich sah meine kleinen Kinder nur wenig. Die Stelle bei der Ärztezeitung war so ausgeschrieben, dass ich 50 Prozent zu Hause arbeiten konnte. Perfekt.
Welches waren Ihre Aufgaben als Chefredaktor der SÄZ?
Als ich meine Stelle antrat, hatte ich den Auftrag, eine Standortbestimmung vorzunehmen und die SÄZ weiterzuentwickeln. Ich sollte eine externe Redaktion aus gut vernetzten Persönlichkeiten aus Medizin und Gesundheitswesen aufbauen, die bereit waren, sich vorwiegend ehrenamtlich für die SÄZ zu engagieren. Hauptaufgabe war und ist die Beurteilung eingereichter Artikel und die Beteiligung an den redaktionellen Diskussionen. Manche Redaktionsmitglieder schreiben aber auch selbst gut und gerne. Im Übrigen sicherte man mir journalistische Freiheit zu. Meine Vorstellung war: Die SÄZ soll journalistischer und professioneller werden.
Wie wurde das umgesetzt?
Wir verstärkten das Coaching unserer Autorinnen und Autoren, modernisierten die Gestaltung der Zeitschrift und gaben dem Heft eine klarere Struktur: Im ersten Teil der SÄZ wird die offizielle Meinung der FMH wiedergegeben. Der anschliessende Forumsteil mit Rubri­ken wie Tribüne, Horizonte oder Zu guter Letzt ist ­inhaltlich freier und bietet Raum für Debatten. Zudem entstanden neue Rubriken – etwa Porträts oder Reportagen.
Was hat die SÄZ bewirken können in Ihrer Zeit als Chefredaktor?
Es ist uns sehr gut gelungen, die SÄZ als offenes Diskussionsforum zu positionieren. Wir konnten immer ­wieder Impulse setzen, die dazu führten, dass für die Ärzteschaft wichtige Themen eine breitere Öffentlichkeit fanden. Ich denke zum Beispiel an die Debatten um Managed Care, Fallpauschalen, die ärztliche Sui­zidhilfe oder den Mangel an Hausärzten. Auch stan­des­politisch heikle Themen wie die Einkommens­unterschiede zwischen Hausärzten und Spezialisten konnten in der SÄZ diskutiert werden. Ich kenne keine andere offizielle Publikation in der Schweiz oder international, in der Debatten rund um das Gesundheits­wesen so offen geführt werden können und in der viele unterschiedliche Akteure zu Wort kommen. Ich sehe es als grosse Stärke der FMH, dass sie das in ihrer Verbandszeitschrift ermöglicht.
Ein immer wieder diskutiertes Thema in der SÄZ wie auch in den Medien sind die Tarife. Inwiefern hat sich das politische Umfeld der Ärzteschaft diesbezüglich verändert?
Seit der Einführung des TARMED sind die Tarife ein Dauerthema. Die Einkommen der Ärztinnen und Ärzte sind heute stärker unter Druck als früher. Einerseits geht es natürlich der Politik darum, die Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen. Das ist verständlich, wird allerdings bisweilen einseitig auf dem Buckel der Ärzteschaft ausgetragen. Ärzte arbeiten enorm viel. Wenn man ihre Honorare in Stundenlöhne umrechnet, relativieren sich hohe Einkommen in vielen Fällen rasch. Ich habe den Eindruck, dass es Politik und Behörden bei gewissen Massnahmen auch darum geht, die Stellung der Ärzteschaft im Gesundheitswesen ­generell zu schwächen.
Bei welchen Massnahmen zum Beispiel?
«Notmassnahmen» wie der letzte bundesrätliche Tarif­eingriff sind aus meiner Sicht letztlich die Folge einer «Divide-et-impera»-Politik. Solche Aktionen zur vermeintlichen Kosteneinsparung erschweren uns Ärzten den Alltag und sind nicht zielführend. Das Bestreben, alle medizinischen Massnahmen zu kontrollieren, hat ein Ausmass erreicht, das kontraproduktiv ist. Es macht das Gesundheitswesen eher teurer als besser. Natürlich gilt es, mit den öffentlichen Geldern im ­Gesundheitswesen sorgsam umzugehen. Aber ohne grundsätzliches Vertrauen in die Ärzteschaft wird alles ineffizient, und dieses Vertrauen fehlt zunehmend.
Bruno Kesseli als Arzt: Sie waren unter anderem in der Psychiatrie, der Drogenmedizin und an einer anthroposophischen Klinik tätig. Wie würden Sie Ihr Menschenbild als Mediziner beschreiben?
Ich sehe mich als offenen, breit interessierten Menschen, sei dies als Arzt oder als Journalist. Deshalb wollte ich in meiner Zeit als Assistenz- und Oberarzt auch medizinisch periphere Bereiche wie die anthroposophische Medizin oder die Drogenmedizin kennenlernen. Ein guter Arzt sollte die Menschen so nehmen, wie sie sind – nicht nur vordergründig. Der Mensch bleibt für mich geheimnisvoll, reduktionistische Menschenbilder und Ideologien sind mir suspekt.
Woran orientieren Sie sich in Ihrer ärztlichen Tätigkeit?
Grundsätzlich an der wissenschaftlichen Medizin. Ich erlebe sie zwar trotz enormer Errungenschaften und ständiger Fortschritte als limitiert – dies zeigt sich bereits bei einem grippalen Infekt. Aber die wissenschaftliche Medizin ist auch verlässlich und in gewissem Sinn bescheiden, da sie ihre Grenzen anerkennt. In der Regel verspricht sie nicht mehr, als sie kann – und sie kann trotz der erwähnten Limiten sehr viel. In meinem engsten Familienkreis habe ich Menschen, die ohne die «Schulmedizin» nicht mehr leben würden, und ich selbst habe auch schon erheblich davon profitiert. Ich möchte vielen Disziplinen des alterna­tiven und komplementären Spektrums ihre Daseinsberechtigung nicht absprechen. Aber ihren Exponenten fehlt öfter diese Bescheidenheit: Sie versprechen viel, können aber relativ wenig.
Bruno Kesseli gelang es als Chefredaktor, die SÄZ als offenes Diskussionsforum zu positionieren.
Was sind Ihre schönsten Erfahrungen als Arzt?
Schön und schmerzlich zugleich, aber sicherlich sehr prägend, war die Betreuung einer Patientin aus dem engsten Familienkreis. Sie verstarb jung an Krebs. Wie sie ihre letzten Wochen lebte, war sehr beeindruckend für mich. Ich denke, ich habe durch diese Erfahrung auch ein wenig die Angst vor Sterben und Tod verloren.
Kommen Ihnen auch skurrile oder witzige Anekdoten in den Sinn?
Ja, die gibt es durchaus. Zum Beispiel sass ich einmal in Zürich im vollbesetzten Tram. Da rief ein Drogen­patient mit heiserer Stimme in voller Lautstärke durch den Wagen: «Hoi Bruno, du bisch im Fall de bescht Dokter!» Das war mir im Moment zwar peinlich, aber es freute mich auch.
Wie würden Sie das Gesundheitswesen in der Schweiz verändern?
Grundsätzlich haben wir ein sehr gutes Gesundheitswesen, das nicht tiefgehend reformiert werden muss. Natürlich gibt es Verbesserungspotential. So sollten überflüssige oder gar schädliche medizinische Interventionen identifiziert und verhindert werden – etwa durch sinnvolle Initiativen wie «Choosing wisely». Die SAMW hat kürzlich ihr Positionspapier «Nachhaltiges Gesundheitssystem» vorgelegt mit Massnahmen wie «Bildung von Gesundheitsregionen» oder Orientierung am «Triple-Aim-Konzept». Auf dem Papier sieht das für mich so gut aus, dass ich sieben von acht Punkten ohne weiteres zustimmen kann. Aber wenn es um die Umsetzung geht, würde ich doch ein paar Frage­zeichen setzen.
Derzeit wird vermehrt über Massnahmen wie Globalbudgets in der Medizin diskutiert. Was halten Sie davon?
Solche «Rosskuren» halte ich für kontraproduktiv. ­Entscheidend ist ein gutes Bildungssystem, denn Menschen mit guter Bildung sind gesünder, gehen weniger häufig zum Arzt, brauchen seltener Operationen und belasten somit das Gesundheitssystem weniger. Als praktischem Arzt fällt mir zudem auf, dass viele Menschen wenig Vertrauen in ihren Körper haben und schlecht einschätzen können, was problemlos von selbst heilt und wo es die Ärztin oder den Arzt braucht. Deshalb sollte schon in der Schule die Gesundheitskompetenz gefördert werden.

Zur Person

Bruno Kesseli studierte in Zürich Germanistik, Geschichte der Neuzeit und Publizistikwissenschaften. Seine Lizentiatsarbeit verfasste er zum Thema ­Literaturverfilmungen. Der Einstieg in den Journalismus erfolgte als Sportberichterstatter für Regionalzeitungen bereits in der Mittelschulzeit. Während des Phil.-I-Studiums war er unter anderem als Kulturredaktor ­einer Regionalzeitung tätig. Nach ­einem Auslandjahr in den USA und in Südamerika folgten Medizinstudium und Dissertation an der Universität Zürich sowie ­anschliessend die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Parallel dazu arbeitete er als freier Wissenschaftsjournalist für universitäre und nationale Medien. Nach Anstellungen in ­drogenmedizinischen Institutionen, zuletzt als Oberarzt beim Drogenmedizinischen Dienst des Stadtärztlichen Dienstes Zürich, und der Aufnahme einer eigenen Praxistätigkeit erfolgte 2005 die Ernennung zum Chefredaktor der Schweizerischen Ärztezeitung. Seit 2014 arbeitet Bruno Kesseli neben seiner Tätigkeit für die SÄZ teilzeitlich in einer hausärztlichen Gruppenpraxis in Affoltern am Albis.
Ende Juli verabschieden Sie sich von der SÄZ. Was wünschen Sie der Zeitschrift für die Zukunft?
Zunächst hoffe ich, dass die FMH weiterhin auf das duale Modell setzt, also eine Zeitschrift, die neben offi­ziellen Mitteilungen auch einen «freien» redaktio­nellen Teil enthält. Dann wünsche ich meinem Nachfolger Matthias Scholer und seinem Team, dass sie die nötigen Mittel erhalten, um eine informative und spannende Zeitschrift und einen ebenso attraktiven ­Online-Auftritt zu gestalten. Schliesslich wünsche ich mir, dass die Herausforderungen, die mit den aktuellen medialen Entwicklungen verbunden sind, vom Schweizerischen Ärzteverlag EMH und der SÄZ erfolgreich gemeistert werden.
Sie werden auch in Zukunft ab und zu als freier Journalist tätig sein. Welchen Artikel würden Sie für die SÄZ gerne mal schreiben?
Als Tennisfan würde ich gerne ein Interview mit Roger Federer machen, der ja Ehrendoktor der Medizinischen Fakultät der Universität Basel ist. Wenn sein Arzt ­dieses Interview liest, kann er ihn vielleicht für mich anfragen oder den Kontakt herstellen (lacht). Nächstes Jahr feiert die SÄZ ihren 100-jährigen Geburtstag, das wäre ein guter Anlass. Ich werde dann zwar nicht mehr Chefredaktor sein, aber ich bin zuversichtlich, dass die Redaktion ein solches Interview gerne publizieren würde.
adrianritter[at]gmx.ch