Umsetzung der TARMED-Verträge – aber richtig!

FMH
Ausgabe
2019/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18063
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(3132):1011-1013

Affiliations
a Dr. med., Präsident Paritätische Vertrauenskommission Aarg. Ärzteverband – santésuisse; b Dr. med., Präsident Kant. Paritätische Kommission Ärzte BL

Publiziert am 31.07.2019

Möglichkeiten und Grenzen der statistischen Screening-Methode im Rahmen der Kontrolle der Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG aus der Sicht eines Präsidenten der Kantonalen Paritätischen Vertrauenskommission PVK.

Ausgangslage

Obwohl die Ärzteschaft die Untauglichkeit der bis Statistikjahr 2016 angewandten RSS- und ANOVA-Statistik der santésuisse immer wieder moniert hat, wird bis dato immer noch auf dieser Grundlage Recht gesprochen – dies bei einem Vorhersagefehler von 30–50%! (Schlussbericht Polynomics AG, Tabelle 7, S. 38: www.fmh.ch/ THEMEN/ Ambulante Tarife/ Arbeitsgruppen/ Arbeitsgruppe WZW).
Aufgrund eines Parlamentsbeschlusses wurde per 1.1.2013 dem Art. 56 KVG ein Absatz 6 eingefügt und in Kraft gesetzt: «Leistungserbringer und Versicherer lege­n vertraglich eine Methode zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit fest.» Im Vertrag vom 23.8.2018 ­betreffend die Screening-Methode im Rahmen der ­Kontrolle der Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG haben die Verbände FMH, santésuisse und curafutura eine vertragliche Regelung in Form von 11 Artikeln betreffend die statistische Screening-Methode im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle vereinbart (siehe dazu Vertrag: www.fmh.ch/ THEMEN/ Ambulante Tarife/ Arbeitsgruppen/ Arbeitsgruppe WZW).
Für die Arbeit der kantonalen paritätischen Vertrauenskommissionen (Art. 17 Rahmenvertrag TARMED KVG) ist dieser Vertrag ebenfalls von Bedeutung, da die kantonalen paritätischen Vertrauenskommissionen unter anderen auch die Aufgabe haben, «die ärztlichen Behandlungen gemäss den von den Parteien erarbeiteten WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit) gemäss Anhang 6 Rahmenvertrag TARMED KVG zu überprüfen».
Die Arbeit der Überprüfung der Leistungserbringung nach den gesetzlich vorgegebenen WZW-Kriterien gemäss Art. 32 KVG findet im Streitfall zwischen Leistungserbringer und Kostenträger auf der ersten Stufe ein Vermittlungsverfahren im Rahmen der kanto­nalen paritätischen Vertrauenskommission und auf zweiter Stufe vor dem Schiedsgericht nach Art. 89 KVG statt. Es ist wichtig anzumerken, dass im Art. 56 KVG und im Vertrag vom 23.8.2018 betreffend die statistische Screening-Methode im Rahmen der Kontrolle der Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG nur von «Wirtschaftlichkeit» die Rede ist. Die gesetzlichen Vorgaben bezüglich «Wirksamkeit» und «Zweckmässigkeit» einer Behandlung werden nicht angesprochen. Die Kriterien der Wirksamkeit und der Zweckmässigkeit sind bei der Beurteilung im Streitfalle für die ­kantonalen paritätischen Vertrauenskommissionen jedoch von gleicher Wichtigkeit.
Zurück zum Vertrag vom 23.8.2018 betreffend die statistische Screening-Methode im Rahmen der Kontrolle der Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG: Die ersten beiden Artikel des Vertrages sind für die kantonalen pari­tätischen Vertrauenskommissionen insofern von Bedeutung, dass je besser diese statistische Screening-Methode ist, umso kleiner wird die Anzahl statistisch auffälliger Ärzte. Diese statistisch auffälligen Ärzte sollten dann aber umso relevanter, mit weniger falsch positiven oder falsch negativen Fällen, bezüglich vermuteter unwirtschaftlicher Leistungserbringung sein. Die von Polynomics AG erarbeitete und vorgeschlagene statistische Screening-Methode wurde von allen drei Verbänden santésuisse, curafutura und FMH akzeptiert und findet bei Daten ab dem Kalenderjahr 2017 Anwendung. Artikel 3 desselben Vertrages legt fest, dass als Basis­daten für die statistische Screening-Methode die Branchendaten der Krankenversicherer (Daten- und Tarifpool der SASIS AG) verwendet werden.

Das Problem der korrekten ­Vergleichsgruppe

Bei der Arbeit im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsverfahren vor dem Schiedsgericht nach Art. 89 KVG zeigt sich jedoch, dass die in solchen Fällen notwendige Bildung von Vergleichskollektiven zunehmend qualitativ ungenügend und nicht mehr hinreichend aussagekräftig ist. Die Erfahrungen der letzten Jahre aus der Arbeit in der kantonalen paritätischen Kommission zeigen jedoc­h, dass die Datenlage, z.B. Homogenität der Vergleichskollektive, qualitativ ungenügend und daher zwingend qualitativ zu verbessern ist. Mit einer ungenügenden Datenlage kann man keine qualitativ guten Wirtschaftlichkeitsverfahren durchführen.
Was ist geschehen? Die Datenpools der SASIS AG werden ja über die mit dem Zentralstellenregister ein­gehenden Daten gespeist. Die Zentralstellenregister-nummern waren bisher meist Einzelarztpraxen oder Institutionen mit gleicher Facharztspezifität zugeordnet. Seit geraumer Zeit werden jedoch Zentralstellen­registernummern an Institutionen vergeben, bei welchen mehrere Fachärzte mit sehr unterschiedlicher Fachspezialität über die gleiche Zentralstellenregister-nummer abrechnen. Dieser Vorgang verhindert, dass bei der Bildung von Vergleichskollektiven auf Basi­s der Zentralstellenregisternummer die notwendige Gleichheit zur Facharztspezialität des im Verfahren stehenden Arztes oder Institution besteht. Zudem wird der heute vermehrten Spezialisierung in Teil­gebiete innerhalb einer Facharztgruppe, nicht zuletzt auch durch den hohen Anteil an Doppeltitelträgern, nicht Rechnung getragen. Der geforderte statistische Vergleich wird damit untauglich.
Dieser Fehler wirkt sich natürlich auch direkt im Rahmen der neuen statistischen Screening-Methode aus, da in der zweiten Stufe der Regressionsanalyse die Faktoren «Standortkanton» und «Facharztgruppe» berücksichtigt werden. Es ist daher mit einer Verschlechterung der statistischen Screening-Resultate zu rechnen.

Fazit Vergleichsgruppe:

Die korrekte Zusammenstellung der Vergleichsgruppe ist zentral für die Anwendung einer sta­tistischen Metho­de und wird heute durch die ver­schiedenen Praxisorganisationsformen und die Fragmen­tierung und Subspezialisierung der medizinischen Leistungs­erbringung zunehmend schwieriger. Die korrekte Zusammenstellung der Vergleichsgruppe muss durch den betroffenen Leistungserbringer überprüfbar sein, das heisst, als minimale Angaben müssen die in der Vergleichsgruppe erfassten Ärzte namentlich einsehbar sein. Zusätzlich braucht es Kenntnis über die Umsätze der einzelnen Ärzte (anonymisiert) und das Leistungsspektrum (Tarifpool).
An dieser Stelle muss auch festgehalten werden, dass die neue statistische Screening-Methode nur einen Teil der Kontrolle der Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG abdeckt. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Indizes der statistischen Screening-Methode keineswegs die Praxisbesonderheiten automatisch und abschliessend korrigieren. Nur einem Teil der Praxis­besonderheiten wird durch die neue statistische Screening-Methode Rechnung getragen. Damit wird die statistische Screening-Methode zwar verbessert, es ersetzt aber die nachgelagerte Einzelfallbeurteilung nicht.

Wo bringt die neue Methode Fortschritte und wo nicht?

Die Methodik wurde mit einer Toleranzgrenze von 30% (Index 130) entsprechend der aktuellen Rechtsprechung geprüft. Die Partner haben sich in der Diskussion darauf verständigt, diese Grenze so zu belassen. Ein Absenken z.B. auf 20% (Index 120) würde aufgrund der statistischen Verteilung die Anzahl falsch positiver Resultate massiv ansteigen lassen.

Stärken:

Morbidität via Altersgruppen, PCG1 und Hospitali­sation: Patienten, welche parallel zu hohen Medi­kamentenkosten und Hospitalisationskosten auch höhere Kosten in der Praxis verursachen, werden identifiziert. Die im Einzelfall verwendete Liste der PCGs müssen bekannt gegeben werden, damit ein Arzt allen­falls nachweisen kann, dass er ein bezüglich Krankheitsbilder abweichendes Patientengut hat.
Unsicherheitsfaktor: Falls einzelne Patienten innerhalb einer Praxis hohe Kosten verursachen (i.d.R. die teuersten 20% der Patienten), führt dies zu Schwankungen innerhalb der Altersgruppenkosten und wird durch den Unsicherheitsfaktor aufgefangen: Das neue System ist viel weniger anfällig auf Ausreisser, was insgesamt die markanteste Verbesserung des Systems darstellt. Die Grösse des Unsicherheitsfaktors und seine individuelle Herleitung ist darzustellen.

Schwächen:

Krankheiten (Morbidität), welche hohe Behandlungskosten verursachen und nicht durch höhere Medikamenten- oder Hospitalisationskosten identifiziert werden, führen zu statistisch nicht erklärten hohen Kosten (z.B. Schmerzpatienten, palliative Betreuung, psychisch kranke Patienten).
Unterschiedliche Leistungsangebote werden nicht erkannt (z.B. operativ tätig vs. konservativ tätig).
Tätigkeit in 2 Fachgebieten wird nicht erkannt (z.B. Kardiologie + hausärztliche Betreuung) – dies bereitet v.a. dann Probleme, wenn die Zusatzleistung mit den tarifarischen Grundleistungen abgerechnet werden muss.
Spezielles Patientenkollektiv (sozial tiefe Schichten, Bevölkerung mit Migrationshintergrund, Fokussierung auf Krankheitsgruppe, welche fachgruppenspezifisch nicht durch PCGs abgebildet wird z.B. HIV in der Fachgruppe Gynäkologie und Geburtshilfe).

Fazit Methodenbewertung:

Die neue statistische Screening-Methode stellt eine wesentliche Verbesserung des Systems dar. Viele Praxisbesonderheiten werden aber nicht erfasst und müssen in jedem Fall einzeln geprüft werden.
Wie ist diesem Missstand zu begegnen? Die drei Vertragsparteien santésuisse, curafutura und FMH haben wahrscheinlich schon weiter gedacht, denn sonst hätten sie nicht im Artikel 4 des Vertrages vom 23.8.2018 betreffend die statistische Screening-Methode im Rahmen der Kontrolle der Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG festgehalten: «... die Details der Daten­grundlage, der Datenbereinigung/Transforma­tionsschritte und die konkrete Spezifikation der implementierten statistischen Methode ... sind zu doku­mentieren und gemeinsam zu publizieren ...» Genau hier muss man bei der Weiterentwicklung der statistischen Screening-Methode ansetzen und diese «Qualitätsarbeit» in Angriff nehmen. Man würde damit allen mit der Beurteilung der Leistungserbringung im Rahmen des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung KVG Betrauten helfen.
Und zu guter Letzt: Die statistische Screening-Methode identifiziert Ärzte, die unter Berücksichtigung der Variablen (Alter, Geschlecht, Region, PCG, Franchise und Spital im Vorjahr) statistisch auffällig hohe Kosten aufweisen. Damit ist aber noch nicht bewiesen, dass der Arzt seine Leistungen nicht gemäss den WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit) erbringt und abrechnet bzw. unwirtschaftlich ist.

Vor dem Urteil kommt die sorgfältige Untersuchung

Die Beurteilung, ob ein Arzt unwirtschaftlich Leistungen erbringt und abrechnet, muss zwingend wie bisher im Anschluss zur statistischen Screening-Methode im Rahmen einer vertieften Einzelfallbeurteilung durch santésuisse erfolgen. Der Versuch von santésuisse, einen Arzt einzig aufgrund seiner erhöhten Indexwerte mit der Argumentation, dass die Indexwerte der neuen statistischen Screening-Methode alle seine Praxisbesonderheit automatisch korrigiert, zu Rückzahlungen zu bewegen, ist nicht akzeptabel.

Fazit

Da eine Screening-Methode sich grundsätzlich auf einfache, gut zugängliche Daten beschränkt und ­damit der Komplexität der Fragestellung einer all­fälligen unwirt­schaftlichen Leistungserbringung nie ­gerecht wird, ist sie als alleiniges Beweismittel untauglich.
Da die Anzahl der statistisch auffälligen Ärzte mit der neuen Methode massiv reduziert werden wird, kann und muss mehr Zeit für eine vertiefte Untersuchung bzw. Einzelfallbeurteilung aufgewendet werden. Es würde der Schweiz gut anstehen, sich an die Standards der umliegenden Staaten anzugleichen und im Gerichtsfall IMMER eine Einzelfallprüfung zu verlangen.
Die Weiterentwicklung der Wirtschaftlichkeitsprüfung sollte daher sowohl in einer Weiterentwicklung der hier diskutierten Methode als auch in einem partnerschaftlichen Festlegen der Methodik der Einzelfallprüfung bestehen.
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