Gendern Sie schon?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18082
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(36):1208

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 04.09.2019

Unsere Vorstellungen werden entscheidend durch die Sprache geprägt. Durch die Verwendung einer gendergerechten Sprache soll das Bewusstsein der Gleichwertigkeit von Frauen und Männern gefördert werden. Universitäten und Verwaltungen versuchen mit Leit­fäden, Vorschriften, Tipps und Empfehlungen neue Formulierungen durchzusetzen. In Zürich hat kürzlich das Büro des Gemeinderats eine Interpellation zurückgewiesen, weil sie nicht geschlechtergerecht formuliert sei. Darin ging es um «Besetzer», ohne nach ­Geschlechtern zu differenzieren. Ein bisher unverfänglicher Plural, grammatikalisch als «generisches Maskulinum» bekannt. Eine männliche Form für eine Männer und Frauen umfassende Menge, wie Besucher, Hausbesetzer oder Schurken. Wie die Zurückweisung dieses korrekt verfassten Antrags zeigt, geht es um eine Auseinandersetzung zwischen Vertretern einer bisher gültigen Grammatik und den amtlichen Wächtern einer rigiden Verordnung. Inzwischen ein ideologisch eskalierter Sprachkrieg zwischen Befürwortern und Gegnern sprachlicher Gleichstellungsregeln. Dabei ist es durchaus sinnvoll, unser Sprachgefühl zu schärfen, alte Schreibweisen aufzubrechen und kreative Lösungen zu finden. Mit dem Mitgemeintsein des weiblichen Geschlechts ist es zu Recht vorbei. ­Vorschläge gibt es zuhauf: Paarformen, Binnen-I, Schrägstrich, Pluralbildungen oder substantiviertes Partizip Präsens, z.B. Studierende statt Studenten und Studentinnen. Neue Formen überzeugen oft durch ihre Einfachheit. Etwa Rede-pult statt Redner-pult, was erst noch eleganter tönt.
Doch der Kampf geht schon in die nächste Runde, wenn Menschen, die sich weder als Frau noch Mann fühlen, durch Sternchen sichtbar werden, etwa Kolleg*innen, das alle Identitätsvarianten anspricht. Der Gender-Stern soll die bipolare Geschlechterauf­teilung aufweichen, indem er Intersexuelle, Trans­gender oder Transsexuelle berücksichtigt. Eine andere Schreibweise bevorzugt den Gender-Gap, einen Unterstrich, etwa Arbeitgeber_in.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat mit einem dritten Geschlecht die Berufswelt verändert. Divers heisst die dritte Geschlechtsoption. Stellenanzeigen müssen neu mit m, w, d gekennzeichnet sein. Kanada spielt eine Vorreiterrolle. Der Text der Nationalhymne wurde geschlechtsneutral angepasst, kanadische Reise­pässe erhalten als neue Option ein Geschlecht X. Die einen sehen sich vor dem grössten Umbruch seit ­Luthers Bibelübersetzung, andere beklagen den Verlust des Abendlandes, das in einem Meer von Gender-Sternchen zu versinken droht. Einem kämpferischen Feminismus steht ein Antigenderismus gegenüber, der frauenfeindliche Hetztiraden auf WikiMANNia verbreitet. An Stelle konstruktiver Diskussionen tobt mancherorts ein Machtkampf. Dabei ist ein sensibler, sorgfältiger Sprachgebrauch gefragt, der gender­gerechte Sprachregeln mit der Eleganz der Literatur verbindet.
Die Schweizerische Ärztezeitung könnte sich beispielsweise zum Magazintitel Gedanken machen, schliesslich geht es in der Mehrzahl um Leserinnen. Jede Sprachgruppe könnte ihre Lösungen anbieten. Man darf auf die Resultate gespannt sein. Doch neu ist das alles nicht. Es sind schon weit grössere Projekte erfolgreich zu Ende geführt worden. «Die Bibel in gerechter Sprache» hat schon vor Jahren für den Herr-Gott neue, brauchbare Varianten vorgeschlagen. Sprachspiele machen hellhörig. Gemäss einem Essay zur Wirkungsmacht der Literatur: «Eine Poesie der gerechten Sprache wird radikale, spielerische, lustvolle, anarchische Texte produzieren, die polemisch und poetisch dem generativen Maskulinum beizukommen streben – um hoffentlich einmal als zweite literarische Moderne in die Literaturgeschichte einzugehen.»
erhard.taverna[at]saez.ch