Das Leid der Landärzte

FMH
Ausgabe
2019/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18267
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(42):1380-1381

Publiziert am 15.10.2019

Einige Mediziner in Hessen sollen viel Geld zurückzahlen, weil sie Patienten besonders häufig zu Hause behandeln. Dem Nachwuchs raten sie: Werdet bloss nicht Landarzt.
Es gibt ein paar Dinge, die sind für Silvia Steinebach selbstverständlich. Zum Beispiel, dass sie unheilbar kranke Patienten, so gut es geht, zu Hause versorgt. «Niemand will im Krankenhaus sterben», sagt die Landärztin aus Hainzell, einem kleinen Ort in der Nähe von Fulda. Wenn jemand an einer Herz- oder Niereninsuffizienz leidet und die Wohnung kaum noch verlassen kann, fährt sie hin. Finanziell lohnt sich das nicht, nur 35,80 Euro kann sie für einen Hausbesuch abrechnen. Bliebe sie in der Praxis, könnte sie in der gleichen Zeit deutlich mehr verdienen. Doch Silvia Steinebach sagt, sie wolle die alten Menschen nicht einfach sich selbst überlassen.

Rückzahlungsforderung von 50 000 Euro – wegen zu vieler Hausbesuche

Vor einiger Zeit bekam die 40 Jahre alte Ärztin nun Post von der Prüfstelle der Ärzte und Krankenkassen in Hessen. Sie kontrolliert, ob die Ärzte wirtschaftlich arbeiten, ob also die Art, wie sie ihre Patienten behandeln, und die Medikamente, die sie verschreiben, «notwendig und zweckmässig» sind – so steht es im Gesetz. Schliesslich geht es um das Geld der Solidargemeinschaft der Versicherten. Silvia Steinebach muss jetzt schriftlich begründen, warum sie viel häufiger häusliche Sterbebegleitung macht als der Durchschnitt aller Mediziner in Hessen. Überzeugt ihre Stellungnahme nicht, wird sie einen Teil ihres Honorars zurückzahlen müssen. «Ich liebe das Landleben, und ich hänge sehr an meinen Patienten», sagt sie. Doch ob sie nach alldem in Hainzell bleiben wird, weiss sie noch nicht. Wie ihr ist es auch anderen Ärzten ergangen, Nils Wagner-Praus und Marei Schoeller zum Beispiel. Sie haben eine Gemeinschaftspraxis in Gilserberg, einer aus elf Ortsteilen bestehenden Gemeinde zwischen Kassel und Frankfurt. «Einen ÖPNV gibt es hier nicht, nicht mal ein Taxiunternehmen», sagt Wagner-Praus. Dafür viele alte Menschen. Die beiden Ärzte machten ebenfalls viele Hausbesuche – zu viele aus Sicht der Prüfstelle. Nun sollen sie nach eigenen Angaben mehr als 50 000 Euro Honorar zurückzahlen. «Wir sind fassungslos», sagt Wagner-Praus. Ein Frankfurter Hausarzt müsse vielleicht keine Hausbesuche machen, weil die Infrastruktur in seiner Stadt gut ausgebaut sei, sagt er. Auf dem Land sei das anders. Einem Medizinstudenten, der kürzlich für einige Zeit in seiner Praxis arbeitete, riet er: Werde bloss nicht Landarzt.

Werde bloss nicht Landarzt

Es ist ein verheerendes Signal in einer Zeit, in der Landärzte händeringend gesucht werden. Schon seit längerem zerbrechen sich Politiker, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kommunen den Kopf, wie sie jungen Ärzten das Landleben schmackhaft machen können. Und werden durchaus erfinderisch: So bauen einige Kommunen medizinische Versorgungszentren auf, in denen Ärzte in Anstellung und somit beispielsweise auch in Teilzeit arbeiten können. Sie kümmern sich zum Teil auch um einen Arbeitsplatz für den Partner oder bieten finanzielle Starthilfe. Einige Bundesländer wollen künftig zudem einen Teil der Medizinstudienplätze an junge Menschen vergeben, die sich verpflichten, anschliessend in einer unterversorgten Region zu arbeiten.
All das bringt aber womöglich wenig, wenn Ärzte ihre jungen Kollegen davor warnen, sich auf dem Land niederzulassen. Aus Sicht der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen sind Regressforderungen daher kontraproduktiv. «Selbst wenn nur wenige Praxen am Ende tatsächlich Honorar zurückzahlen müssen oder mit Regressen belegt werden, ist ein solches Verfahren vor allem psychologisch sehr belastend, denn es stehen teilweise hohe Beträge im Raum», sagt ein Sprecher. Diese Erfahrung haben auch Marei Schoeller und Nils Wagner-Praus gemacht. Ihr Widerspruch wurde abgelehnt. Die Kassenärztliche Vereinigung verweist darauf, dass die Ärzte, die in der unabhängigen Prüfkommission sitzen, «keine medizinisch nachvollziehbaren Gründe für die starken Überschreitungen» finden konnten. Ärztin Schoeller hingegen findet: «Entscheidend sollte nicht sein, wie viele Hausbesuche andere Ärzte im Durchschnitt machen. Entweder ein Hausbesuch ist nötig, oder er ist nicht nötig.» Ähnlich sieht es Silvia Steinebach aus Hainzell: Da andere Landärzte ­inzwischen weniger Hausbesuche und palliative Sterbebegleitung machten, sei es logisch, dass sie in der Statistik auffalle. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung ging die Zahl der Hausbesuche in Hessen von 2009 bis 2017 um rund ein Drittel zurück. Die palliativen Hausbesuche nahmen allein seit 2014 um rund 10 Prozent ab.
Den beiden Ärzten aus Gilserberg blieb dennoch nichts anderes übrig, als die Hausbesuche zu reduzieren. Schon vor einiger Zeit haben sie damit angefangen, denn auch früher drohten ihnen schon mal Rück­zahlungen. Bislang konnten sie die unter Verweis auf die Besonderheiten der Region stets abweisen. Nun aber könnte ihnen nach der ersten Rückforderung für die Jahre 2012 bis 2014 bald das nächste Verfahren für die Jahre 2015 und 2016 bevorstehen. «Wir wissen nicht, wie wir die Hausbesuche weiter zurückfahren sollen, ohne dass unsere Patienten medizinisch schlechter versorgt sind», sagt Marei Schoeller. Wie es weitergehen soll? Das wissen auch diese beiden Ärzte noch nicht.

Es ist die Willkür, die stört

Petra und Oliver Ranze hingegen haben ihre Entscheidung gefällt: Sie wandern in die Schweiz aus. Der Schritt sei ihnen nicht leichtgefallen, sagt Petra Ranze. Doch nachdem sie mehrmals in Regress genommen wurden, obwohl sie nach eigener Aussage im Vergleich zu anderen Kollegen immer sparsam mit den Beitragsgeldern umgegangen seien und das ihnen zustehende Budget nie voll ausgeschöpft hätten, reiche es ihnen nun. Einmal sollten sie im Rahmen einer Zufallsprüfung 4000 Euro zahlen, weil sie einen bestimmten Magensäureblocker überdurchschnittlich oft verschrieben hatten, der nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung gegenüber anderen, deutlich günstigeren Medikamenten keinen Zusatznutzen hat. Ein anderes Mal wurden 1000 Euro fällig, weil die beiden Ärzte zu häufig Physiotherapie verordnet hatten. Die Summen sind vergleichsweise klein, um das Geld gehe es ihr aber auch nicht, sagt Petra Ranze. «Es ist die Willkür, die mich stört.» Mit 57 Jahren sei sie eigentlich nicht in einer Situation, wo sie woanders noch einmal neu anfangen wolle. Nun tut sie es trotzdem: Im Juli beginnt ihr neues Leben als angestellte Medizinerin in einem Ärztehaus in Zürich.
Quelle: F.A.Z. vom 3.5.2018, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Das Globalbudget führt zu einer Rationierung von ärztlichen Leistungen

Das im Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) genannte Ärzteehepaar ist tatsächlich in die Schweiz ausgewandert. Die FMH hat Dr. Ranze gefragt, wie sich sein Arbeitsalltag geändert hat.
Welche Unterschiede gibt es zwischen Ihrem Arbeitsalltag heute hier und früher in Deutschland?
Hier in der Schweiz steht mir mehr Zeit für die Patienten und ­Patientinnen zur Verfügung, und ich erhalte auch mehr Wert­schätzung von ihnen. Allgemein hat der Hausarzt einen grösseren Stellenwert in der medizinischen Versorgung. Durch den ambulanten Tarif werden ärztliche Leistungen gerecht abgebildet. Im Rahmen des geltenden Wirtschaftlichkeitsgebots geniesse ich als Arzt Therapiefreiheit, weil ich nicht mehr persönlich finanziell für die Behandlung der Patienten und Patientinnen hafte und Regresse befürchten muss.
Wie würden Sie einem Arzt oder einer Ärztin aus der Schweiz erklären, wie sich das deutsche Globalbudget auf die Ärzteschaft, aber auch die Patienten in Deutschland auswirkt?
Das Globalbudget führt zu einer Rationierung von ärztlichen ­Leistungen insbesondere bei chronisch kranken Patienten und Patientinnen mit erhöhtem Behandlungsbedarf. Auch die Ver­sorgung mit Medikamenten und Heil- und Hilfsmitteln ist davon betroffen. Durch diese Rationierung sind jüngere Kolleginnen und Kollegen immer weniger bereit, eine freiberufliche ärztliche Tätigkeit in der Grundversorgung aufzunehmen. Vor allem ländliche Gebiete leiden unter einer schlechten Versorgung, da das Globalbudget zu einer Zentralisierung der ärztlichen Versorgung führt.
1 Vertiefende Informationen zur Praxis der Budgetierung und ­Regresse in Deutschland finden sich in: Gassen A. In der ­Budgetfalle. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(39):1306–8, URL: https://saez.ch/de/article/doi/saez.2018.17119/