Eine nachhaltige, finanzierbare Gesundheitsversorgung mit Nietzsche

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Generalsekretär der SAGW

Publiziert am 10.12.2019

Unter Gesundheit verstand Friedrich Nietzsche «das Mass der Krankheit, welches es erlaubt, ein befriedigendes Leben zu führen». In nuce hat Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts ein Gesundheitsverständnis vorweggenommen, welches die WHO 2015 umfassend im «Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health» (GSAPH) dargelegt hat. Gesundheit wird als dynamischer Prozess definiert, der sich aus den Wechselwirkungen zwischen der Umwelt und den Fähigkeiten, Fertigkeiten, Eigenschaften, Beeinträchtigungen sowie biologisch-physiologischen Bedingungen ergibt und es einem Menschen während seines Lebens erlaubt, zu tun und zu sein, was für ihn bedeutsam ist.
Die Abwendung von einer krankheitsorientierten, symptombezogenen Diagnose und Behandlung hat bereits die Ottawa Declaration 1986 eingefordert, ebenso den Einbezug von Ressourcen, Fähigkeiten und Potenzialen des Patienten, so dass dieser nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt verstanden wird. Dominant und handlungsleitend ist jedoch weiterhin das Gesundheitsverständnis der WHO aus dem Jahre 1948, das Gesundheit als «state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of diseas­e or infirmity» definiert. Seit langem, bis heute jedoch nicht revidiert, steht die WHO-Definition aus vier gut hinterlegten Gründen in der Kritik (u.a.m. Huber M, 2011; Abel T, 2013):
1. Unbeabsichtigt treibt die Absolutheit des umfassenden Gesundheitsverständnisses in Kombination mit einer laufend verfeinerten Diagnostik die Medikalisierung nicht nur von physischen Einschränkungen, sondern auch von psychischen und sozialen Defiziten voran.
2. Das Gesundheitsverständnis ist nicht mehr zeitgemäss, da aufgrund der demographischen Alterung nicht übertragbare, chronische Krankheiten sowie Einschränkungen nicht länger die Ausnahme, sondern die Regel sind.
3. Da die absolute Gesundheit ein real nicht existierender, gedanklich konstruierter Idealtyp ist, lässt sich diese weder operationalisieren noch messen. Gemessen wird die Abweichung von einer abstrakten Norm, die sich in der Realität selten oder nie manifestiert.
4. Dem real existierenden Individuum mit seinen Kapazitäten und Einschränkungen wird nicht Rechnung getragen, auch nicht seinen Fähigkeiten, mit physischen, psychischen und sozialen Einschränkungen ein erfülltes Leben zu führen (Huber M, 2011).
Im Vergleich zur Ottawa-Deklaration neu und entscheidend ist, dass die GSAPH die Erhaltung und Stabilisierung der Gesundheit als dynamischen Prozess begrei­ft, welcher sich aus den Wechselwirkungen zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Umwelt ergibt. Anstelle der sozialen Bedingungen, die zweifellos die Gesundheit massgeblich beeinflussen, jedoch in der Regel nicht kurzfristig verändert werden können, rückt der Kontext ins Zentrum. Gemeint sind damit die förderlichen und hinderlichen Bedingungen im unmittelbaren und konkreten Lebensraum.
Auf die heutigen Herausforderungen zugeschnitten bieten der «Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health» der WHO und die Dekade des healthy ageing eine einmalige Opportunität, ein finanzier­bares und den Bedürfnissen entsprechendes Gesundheitssystem zu entwickeln. Erste Schritte zur Implementierung dieses Referenzrahmens erfolgten mit der Plattform www.ageingsociety.ch, der sich über 70 In­stitutionen angeschlossen haben. Entscheidende Fortschritte können indes nur erwartet werden, wenn sich die Ärzteschaft für die WHO-Strategie engagiert.
1 Abel Thomas. Current and Future Theoretical Foundations for NCD’s and Health Promotion, in: D.V. McQueen, Global Handbook on Noncommunicable Diseases and Health Promotion. Springer Science + Business Media, 2013.
2 Huber Machteld and al. How should we define health?, in: BMJ. 2011:343.
3 WHO, Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health (GSAPH), 2015.