Die Ärzteschaft in der EPD-Haftungsfalle?

FMH
Ausgabe
2019/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18444
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(48):1600

Affiliations
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortliche Digitalisierung / eHealth

Publiziert am 26.11.2019

Kürzlich veröffentlichte das Schweizer Radio SRF einen Beitrag zum Stand der Umsetzung des elektronischen Patientendossiers (EPD) – die Hauptaussage lässt an ­einer planmässigen Einführung des EPD im nächsten Frühling zweifeln: Laut dem Spital-Dachverband H+ hat erst die Hälfte der Spitäler mit der Umsetzung des EPD begonnen. Insbesondere ist unklar, welche ­Informationen überhaupt in das EPD hochgeladen werden müssen, so dass die behandelnden Fachper­sonen die relevanten Informationen schnell auffinden können [1]. Der Gesetzgeber hat lediglich festgelegt, dass das EPD «behandlungsrelevante Daten» der Pa­tien­ten enthält.
Diese wenig konkrete Definition wird dazu führen, dass besonders bei Patienten mit komplexen Krankheitsbildern das EPD in der Anfangsphase mit PDF-­Dokumenten überfüllt und das Auffinden von relevanten Informationen dadurch erheblich erschwert wird. ­Daraus entstehen neue haftungsrechtliche Frage­stellungen, welche die Ärzteschaft bewegen. In einer ­Umfrage einer Masterarbeit, welche die FMH begleitet hat, äussern 50% der befragten Haus- und Kinderärzte der Schweiz juristische Bedenken gegenüber einer Teilnahme am EPD [2].
Sobald eine Ärztin am EPD teilnimmt – egal ob freiwillig oder verpflichtet –, besteht nach Massgabe des sie treffenden gesetzlichen Sorgfaltsgebots grundsätzlich die Verpflichtung, das EPD zweckmässig zum Einsatz zu bringen. Eine Patientin darf also davon ausgehen, dass ein Arzt mit Zugriff auf das EPD dieses auch als ­Informationsquelle nutzt, soweit dies im Rahmen des konkreten Behandlungsverhältnisses zweckmässig ­erscheint. Bei der erwarteten PDF-Datenflut entstehen dadurch natürlich grosse Herausforderungen für die Ärzteschaft: Wie sollen hunderte von Dokumenten innerhalb kurzer Zeit gesichtet und die nützlichen Informationen bewertet und extrahiert werden?
Aufgrund des gesetzlichen Sorgfaltsgebots ist ebenfalls davon auszugehen, dass die am EPD teilnehmende Ärzteschaft die behandlungsrelevanten Daten nicht nur lesen, sondern auch erfassen muss. Mögliche Haftungsfälle im Zusammenhang mit dem EPD sind auf Grundlage der allgemeinen Haftungs- und Sorgfaltsregeln zu beurteilen. Dabei ist massgebend, ob die Ärztin zum Zeitpunkt der Dokumentationserstellung davon ausgehen musste, dass eine bestimmte Massnahme oder Beobachtung für zukünftige Behandlungen von Relevanz sein werden. Eine Erfassungspflicht dürfte nur dann bestehen, wenn der Arzt durch die Patientin oder eine andere Gesundheitsfachperson konkret ­aufgefordert wird, bestimmte behandlungsrelevante ­Daten im EPD zugänglich zu machen. Eine Erfassungspflicht besteht wohl auch dann, wenn die Ärztin unter den konkreten Umständen annehmen muss, dass die Daten in absehbaren künftigen Behandlungen benötigt werden.
Eine Prognose darüber, wie die Gerichte über die anzuwendende Sorgfalt mit Blick auf die Erfassung von Daten im EPD in Zukunft urteilen werden, ist schwierig. Die FMH begrüsst daher Umsetzungshilfen, wie sie eHealth Suisse zusammen mit betroffenen Akteuren erarbeitet hat [3]. Gleichzeitig betont die FMH, dass die Behandlungsrelevanz medizinischer Informationen hoch kontextbezogen ist und weder mit einem einfachen Algorithmus noch mit dem bei der Einführung zur Verfügung stehenden Ordnungssystem sinnvoll abgebildet werden kann. Solange den teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten weder die Software zur zweckmässigen Integration der Austauschformate zur Ver­fügung steht, noch die direkte und kontextualisierte digitale Kommunikation durch das EPD unterstützt wird, dürften viele Erwartungen im Reich der Zukunftsvision anzusiedeln sein.
1 Wanner C. Elektronisches Patientendossier hält nicht, was es ­verspricht. SRF [Internet]. 2019; https://www.srf.ch/news/schweiz/ab-april-obligatorisch-elektronisches-patientendossier-haelt-nicht-was-es-verspricht
2 Unveröffentlichte Ergebnisse der Umfrage im Rahmen einer ­Masterarbeit in Zusammenarbeit mit der ZHAW.
3 Behandlungsrelevante Informationen – Umsetzungshilfe für die Stammgemeinschaften; https://www.e-health-suisse.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/D/umsetzungshilfe-behandlungsrelevante-informationen.pdf