Zum Tag der Kranken 2020

Ich bin mehr als meine Krankheit

FMH
Ausgabe
2020/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18672
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(09):283-284

Affiliations
Dr. med., Delegierter der FMH und Vizepräsident «Tag der Kranken»

Publiziert am 26.02.2020

Als Ärztinnen und Ärzte sind wir ausgebildet, um Krankheiten zu erkennen und zu behandeln. Wir haben viel Erfahrung im Umgang mit kranken Menschen, ordnen Symptome ein, erklären Therapien und beraten Angehörige. Spitäler und Praxen sind Orte, in denen Krankheiten und deren Behandlung im Mittelpunkt stehen. Unser klinischer Blick richtet sich auf mannigfaltige Symptome, die oft mit Schmerzen und Einbussen in der Leistungsfähigkeit verbunden sind.

Aktiv am Leben teilnehmen

Daten des Schweizerischen Haushalt-Panels zeigen, dass viele Menschen trotz Krankheiten aktiv am Leben teilnehmen. Im Jahr 2018 gaben 36,73% von den 9219 Befragten ab 15 Jahren an, eine chronische Krankheit oder ein gesundheitliches Problem zu haben, das schon länger andauert. 54,70% der Personen dieser Gruppe arbeiten oder sind in einer Ausbildung. Weitere 36,41% sind bereits in Rente. Die Zahlen des Haushalt-Panels zeigen zusätzlich, dass diese Menschen trotz Krankheit aktiv am Sozialleben teilnehmen. 52,68% der Befragten mit einer chronischen Krankheit engagieren sich ­sozial in einer Gruppe, einem Verein oder einer anderen Organisation. Die Zahlen aus dem Jahr 2016 weisen zudem darauf hin, dass rund 30% der Menschen mit eine­r chronischen Krankheit freiwillige Arbeit leisten für Personen, die nicht in ihrem Haushalt leben. Dazu zählt zum Beispiel Kinderhüten, Nachbarschaftshilfe oder Fahrservice.
Viele Menschen nehmen trotz chronischer oder längerer Krankheit aktiv am Leben teil.

Soziale Unterstützung und Teilhabe

Soziale Integration und soziale Unterstützung sind ­wesentliche Pfeiler, um trotz Krankheit und Leiden ein lebenswertes Leben zu führen und auch um wieder ­gesund zu werden. Patienten sind nicht nur kranke oder beeinträchtigte Menschen, sondern Individuen mit vielen verschiedenen Facetten und Ressourcen. Die Zahlen des Haushalt-Panels zeigen, dass auch ­Menschen mit chronischen Krankheiten grossteils ­aktiv am sozialen Leben teilnehmen. Eine Erkrankung schränkt zwar die Alltagsaktivitäten ein und kann die Lebensqualität beeinträchtigen, aber mit sozialer Teilhabe und guter Vernetzung können Betroffene aus­reichend Unterstützung erhalten und sich einge­bunden fühlen, länger leben und sich sowohl körperlich als auch psychisch gesünder fühlen als diejenigen, die ­sozial isoliert sind. Die soziale Teilhabe hat eine er­hebliche Wirkung auf die Lebenserwartung wie auch auf Krankheitsrisiken, Genesungschancen und Genesungsdauer. Diese positive Wirkung auf die Gesundheit ist durch Untersuchungen und Studien gut belegt.

Gesundheitskompetenz – ein ­Gemeinschaftswerk

Gerade psychisch oder chronisch kranke Menschen fühlen sich oft missverstanden und entmutigt, wenn ihre von einer Erkrankung geprägte Lebenserfahrung pathologisiert wird oder lediglich als Symptom gedeutet wird. Jeder Mensch – auch der kranke – braucht einen Sinn in seinem Leben, er muss schwierige Lebenssituationen ertragen können, und er will in einer Gemeinschaft eingebettet sein. Auch kranke und beeinträchtigte Menschen sind in der Lage, in Krisen und Leidenszeiten ihr Leben selber in die Hand zu nehmen und selbstbestimmt durch das Leben zu gehen. Dazu braucht es aber Menschen – Angehörige, Gesundheitsfachleute, die Gesellschaft als Ganzes –, die an die ­Betroffenen glauben und Hoffnung vermitteln. Menschen erleben ihr Leben dann als sinnvoll und lebenswert, wenn sie die eigene Biographie, den eigenen Weg verstehen und akzeptieren können. Damit dies gelingen kann, brauchen Betroffene soziale Unterstützung und Akzeptanz , und zwar nicht nur in ihrer Rolle als Patientinnen und Patienten. Widerstandskraft, konstruktive Anpassungsleistungen, Kampf ­gegen Resignation und Entwertung werden dann gestärkt, wenn wir nicht alleine sind, wenn wir Menschen an unserer Seite wissen, die uns als voll­wertige Personen schätzen.

Ärztinnen und Ärzte sind mehr 
als nur Krankheitsexperten

Als Ärzte sind wir zwar Expertinnen und Experten für Krankheiten, aber wir sollten auch Experten für Gesundheitsaspekte sein. Ganz im Zeichen des schon in die Jahre gekommenen bio-psycho-sozialen Verständnisses geht es nicht nur um Biologie, sondern auch um die Seele und die soziale Einbettung. Unsere Behandlung soll sich auf sinn- und ressourcen-orientiertes Verständnis ausrichten anstatt ausschliesslich auf ein defizit-orientiertes Krankheitsverständnis. Dazu braucht es Zeit mit den Patienten und ihren Angehörigen. Die Entschädigung dafür ist bei den Kostenträgern einzufordern, denn auch sie sollen diese Haltung im Interesse der Versicherten begünstigen. Für die ­Patientinnen und Patienten heisst dies, dass die Deutungsmacht über «krank und gesund» in ihre Autonomie fällt, und nicht in die von Versicherern oder Leistungserbringern. Und nicht zuletzt sind unsere Praxen und Spitäler für viele Menschen auch wichtige Begegnungsorte und soziale Gemeinschaften. Wir tragen Verantwortung dafür, dass alle Menschen welcher Herkunft auch immer willkommen sind und dass wir eine Atmosphäre der Menschlichkeit bewahren können – trotz Kostendruck und politischer Unsicherheiten.
Wir Ärztinnen und Ärzte sind mit Recht stolz auf unseren Eid. Lassen wir uns inspirieren und diesen auch umsetzen. Die «Deklaration von Genf», der neue Eid für uns Ärzte, verlangt, «dass der Arzt sich nicht durch ­Alter, Krankheit und Behinderung beeinflussen lassen soll» und: «Es ist die Aufgabe des Arztes, menschliches Leben zu schützen, Gesundheit zu fördern und zu erhalten, Krankheiten zu behandeln, Leiden zu lindern und Sterbenden beizustehen.» Die WHO zählt in ihrer Definition von Gesundheit neben dem körperlichen und psychischen Wohlbefinden klar auch das soziale Wohlbefinden zur Definition von Gesundheit. Tragen wir Sorge gerade zum sozialen Wohlbefinden und trauen wir unseren Patientinnen und Patienten zu, dass sie mehr sind als eine Krankheit.

Tag der Kranken

Der Tag der Kranken ist ein gemeinnütziger Verein, der 1939 gegründet wurde. Er besteht aus verschiedenen Mitgliedern, so auch der FMH, die im Vorstand des Vereins das Vizepräsidium einnimmt. Der Tag der Kranken findet jeweils Anfang März statt (in diesem Jahr am 1. März).
Weitere Informationen: www.tagderkranken.ch
Dr. med. Hans Kurt
Facharzt für Psychiatrie
und Psychotherapie
Bielstrasse 109
CH-4500 Solothurn
kurt[at]solnet.ch
– FORS, Analysen aus den Schweizer Haushalt-Panel-Daten zum Tag der Kranken
– Schweizerische Gesundheitsbefragung 2017
– Schweizerisches Gesundheitsobservatorium OBSAN,
Nationaler ­Gesundheitsbericht 2015
– Kammer-Spohn M. Recovery. Schweiz Ärzteztg. 2013;94:38.