Die Gesellschaft verändert sich – und das Gesundheitssystem?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18753
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(1920):662

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 06.05.2020

Am 9. Februar dieses Jahres stimmte die Schweizer ­Bevölkerung mit grosser Mehrheit dafür, Homophobie künftig strafbar zu machen. Da ich bei meiner frü­heren Tätigkeit als Kantonsarzt von diesem Thema ­betroffen war, möchte ich unterstreichen, dass solche Entwicklungen kein Zufall sind, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen von engagierten Fachleuten. Dabei spielen sexuelle Aufklärung sowie ­vermehrter Respekt gegenüber Menschen, die von gängigen Stereotypen abweichen, eine Rolle. Anfeindungen durch zivile und religiöse Instanzen blieben dabei nicht aus, aber es findet ein Wandel statt, ­vergleichbar mit demjenigen, der vor dreissig Jahren wesentlich im Kampf gegen Aids geholfen hat.
Zu einem anderen Thema – dem Vaterschaftsurlaub, mit einer Frage, ob es einen solchen Urlaub geben sollte oder Elternzeit, die beide Eltern sich beliebig aufteilen können. Unglücklicherweise gibt es ein Referendum gegen den verabschiedeten Gesetzestext, obwohl klar ist, dass die Bevölkerung dieses Gesetz befürwortet.
Die Welt befindet sich im Wandel. Auch die Energiewende ist ein dringliches Thema. Der Klimastreik und Extinction Rebellion rütteln uns auf und fordern angemessene Sofortmassnahmen. Es ist beeindruckend, dass einige junge Menschen sogar ihr Studium unterbrechen, um sich dem Kampf gegen den Klimawandel zu widmen (oder manche keine Kinder wollen, um den Planeten nicht noch mehr zu belasten). Selbsterklärte «Realisten» verurteilen dieses Verhalten und bezeichnen es als sinnfrei. Sie wollen nicht wahr­haben, dass es Menschen gibt, die ohne Gegenleistung Opfer bringen.
Reformen im Gesundheitssystem? Grundsätzlich herrscht Einigkeit über die Empfehlungen der «smarter medicine»: Bestimmte Tests und Eingriffe, die früher gang und gäbe waren, etwa der jährliche Routine-Check, sollten nicht mehr durchgeführt werden. Die Daten dazu sind eindeutig: Der gelegentliche Nutzen steht in keinem Verhältnis zum Aufwand und den Kosten («the check up can snowball into a cascade of tests, causing more harm than good» – Washington Post, 6. Januar 2020). Allerdings hängen die Schwierigkeiten bei der Umsetzung weniger mit der Qualität der Empfeh­lungen als vielmehr mit den TARMED-Tarifen zusammen …
Prof. Daniel Scheidegger, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), schrieb 2019 anlässlich eines Jahrestreffens mit dem Gesundheitsminister: «Bei den Tischge­sprä­chen [...] wurde einmal mehr deutlich, wie schwierig es ist, neue Wege zu erkunden. Nicht, weil es keine gibt, sondern weil jede und jeder eine klare Meinung hat, woran das jetzige System krankt [...] Das macht eine grundlegende Diskussion extrem schwierig, weil niemand dem Gegenüber richtig zuhören will [...] Wie beim Klimaschutz liegen genügend Daten vor, die zeigen, dass sich im Schweizerischen Gesundheitswesen etwas ändern muss» [1].
Zum Thema interprofessionelle Zusammenarbeit (IPZ) schreibt Daniel Scheidegger: «Über interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheitswesen wird seit 25 Jahren gesprochen, geschehen ist leider in dieser Zeit sehr wenig. Mehrfach wurde gezeigt, dass durch eine echte IPZ die Fehlerhäufigkeit sinkt, die Hospitalisationsdauer verkürzt wird und die Patientenzufriedenheit zunimmt» ([2] – siehe auch [3, 4]. Kürzlich haben einige Akteure, die diese Entwicklung eigentlich begrüssen müssten, zahlreiche Vorbehalte gegenüber dem Einsatz von klinischen Pflegeexpertinnen und -experten (NursePractitioners) geäussert oder sich diesem gar widersetzt. Ein bekanntes Schema: Konstruktive Veränderungen sind immer willkommen, ausser sie betreffen einen persönlich. Was die Vergütung ­anbelangt, so hat Daniel Scheidegger etwas gesagt, das einige schockieren dürfte: «Wenn wir als Team zu­sammenarbeiten, müssen wir auch als Team bezahlt werden.»
Hinzu kommen andere wesentliche Herausforderungen für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem, wie ganz aktuell Covid-19, die hier nicht aufgegriffen wurden.
jean.martin[at]saez.ch
1 Scheidegger D. Zukunft des Gesundheitswesens. Bulletin SAMW, Nr. 1/2019, 2.
2 Scheidegger D. Interprofessionelle Zusammenarbeit. Bulletin SAMW. Nr. 3/2018, 2.
3 Schmitz C, et al. Wieso eigentlich interprofessionelle Zusammenarbeit? Schweiz Ärzteztg. 2020;101(9):292–3.
4 Rippstein J. La maison de santé, un nouveau modèle de soins (interview du Dr Ph. Schaller). Bull Méd Suisses. 2020;101(11):384–6.