Interview mit Jürg Schlup, Präsident der FMH

«Ein zentrales Thema wird die Versorgungssicherheit sein»

FMH
Ausgabe
2020/1718
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18872
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(1718):561-562

Affiliations
Chefredaktor SÄZ

Publiziert am 22.04.2020

Die Corona-Pandemie fordert auch die Standesorganisation FMH stark. Aktuelle ­Informationen zeitnah aufbereiten, Fragen beantworten und die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, damit die wirtschaftlichen Schäden auch für die einzelnen Praxen abgefedert werden – dies ist nur eine kleine Auswahl an Dienstleistungen, welche die FMH zurzeit erbringt. Welche Sorgen und Nöte die Ärztinnen und Ärzte am meisten beschäftigen, erlebt Jürg Schlup jeden Tag hautnah mit.
Wie gehen die Mitarbeitenden der FMH 
mit der derzeitigen Situation um? Kann die FMH ihre Dienstleistungen aufrechterhalten?
Die Mitarbeitenden der FMH stellen die Dienstleistungen weiterhin sicher. Etwa zwei Drittel unserer Mit­arbeitenden versuchen so weit möglich, im Home­office zu arbeiten. Die restlichen Mitarbeitenden arbeiten weiterhin vor Ort in Bern und Olten. Die Kommunikation innerhalb der FMH ist elektronisch sichergestellt. Einige Mitarbeitende sind durch die Schulschliessungen herausgefordert, wenige werden für Militär- oder Zivilschutzdienst eingezogen. Vor allem unsere Kommunikationsabteilung hat sehr viele Anfragen zu beantworten und arbeitet zeitweise praktisch rund um die Uhr. Auch beim Rechtsdienst fallen nun viele Abklärungen an.
Jürg Schlup: «Im jetzigen Krisenfall setzen wir uns besonders stark für die Interessen der Ärzteschaft ein.»
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gibt es viel zu kommunizieren. Über welche Kanäle informiert die FMH ihre Mitglieder?
Wir kommunizieren auf verschiedensten Wegen. Auf unserer Website haben wir die Unterseite «Corona­virus» erstellt, die täglich aktualisiert wird. Dort findet man auch die häufigsten Fragen, die an die FMH gerichtet werden, und die Antworten dazu. Ansonsten kommunizieren wir über Social Media, wenden uns aber auch in wöchentlichen Mailings an die Präsidenten der uns angeschlossenen 89 Orga­nisationen. Zusätzlich informieren wir unsere Mitglieder über elek­tronische Mailings. Dabei peilen ­wir aktuell einen etwa zweiwöchigen Rhythmus an. Bei Bedarf können wir den Rhythmus jederzeit ­anpassen.
Die verschiedenen Regierungsorganisationen und das BAG informieren regelmässig die Bevölkerung. Welche Aufgaben übernimmt die FMH in diesen Zeiten gegenüber den Ärztinnen und Ärzten?
Anders als das BAG fokussiert sich die FMH bei ihren In­formationen vor allem auf die Ärzteschaft und deren besondere Bedürfnisse. Wir stellen beispielsweise Informationen und Faktenblätter zu Themen wie Covid-19-­Nasen-Rachen-Ab­strichen, zu telemedizinischen Konsultationen, zu ­Attesten für gefährdete Personen oder zu Abrechnungsfragen während der Pandemie zur Verfügung. Weiter haben wir gemeinsam mit HIN ein kostenloses Tool für telemedizinische Videokonferenzen lanciert. Daneben setzen wir uns aber auch mit praktischen Dienstleistungen ein: So erweiterten wir zum Beispiel unser ReMed-Angebot für Ärztinnen und Ärzte in Krisen oder beteiligen uns an der Arbeitsvermittlungsplattform «Care Now», über die Ärztinnen und Ärzte Institutionen finden können, die dringend Fachkräfte suchen. So konnten wir bereits pensionierte Ärztinnen und Ärzte zur Verstärkung der «Infoline Coronavirus» des BAG vermitteln und auch einige jüngere Kolleginnen und Kollegen für einen Unterstützungseinsatz motivieren.
Was tun Sie, um die Interessen der Ärzteschaft in diesen Zeiten zu vertreten?
Die Vertretung der Interessen der Ärzteschaft ist ein zen­traler Teil der Arbeit unseres nationalen Berufsverbandes. Wie bereits in normalen Zeiten engagiert sich die FMH auch im aktuellen Pandemiekrisenfall stark dafür. Dazu gehört unter anderem das Einbringen von Anliegen der Ärzteschaft bei den zuständigen Departementen.
Beispielsweise forderten wir eine Lösung für die temporäre Kostenübernahme während der Covid-19-Pandemie ein, damit Ärztinnen und Ärzte telemedizinische Konsultationen anstelle von Konsultationen in der Praxis verrechnen können. Dadurch erreichten wir, dass die Limi­tationen auf Telefonkonsultationen für Psychiater weitgehend aufgehoben und diejenigen für Haus- und Kinderärzte etwas modifiziert wurden.
Weiter haben wir gefordert, dass alle Selbständigen der Covid-Erwerbsausfallentschädigung (CEE) zu unterstellen sind, also nicht nur diejenigen – vor allem Gesundheitsberufe, insbesondere Ärztinnen und Ärzte –, deren Betrieb formell geschlossen wurde, sondern auch die­jenigen deren Berufstätigkeit auf dringliche Behandlungen eingeschränk und damit massiv reduziert wurde. Wir konnten er­reichen, dass der Bundesrat Anfang April den ent­sprechenden Bundesämtern den Auftrag erteilt hat, eine Abfederung von Härtefällen für alle Selbständig­erwerbenden zu prüfen und bis Ostern die Verordnung anzupassen. Seit Mitte März tagt der ZV nun zwei Mal wöchentlich statt wie bisher ein Mal monatlich.
Welches sind die häufigsten Fragen rund um Covid-19, mit denen Sie konfrontiert werden? Und wie kann die FMH dabei helfen?
Die Fragen, die uns erreichen, decken ein breites Spektrum ab. Es geht um rechtliche Fragen, wie beispielsweise, welche Behandlungen nun noch als dringend gelten und damit erlaubt sind und welche nicht. Es geht aber auch um Kurzarbeitsentschädigung, Erwerbsausfallentschädigung oder Möglichkeiten des Aufschubs von Kreditorenzahlungen. Viele Fragen betreffen den medizinischen Alltag. Insbesondere Fragen rund um Testdurchführungen, Mangel an Schutz­material, insbesondere Masken, oder auch um Daten­sicherheit bei telemedizinischen Konsultationen. Auf unserer Website haben wir die häufigsten an uns gerichteten Fragen zusammengestellt. (Anmerkung der Redaktion: www.fmh.ch → Dienstleistungen → Kommunikation → Aktuelle Infos Coronavirus)
In der Tagespresse konnte man lesen, dass verschiedene Spitäler, spezialisierte Arztpraxen und Gruppenpraxen Kurzarbeit anmelden wollen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Mit der «COVID-19-Verordnung 2» vom 13. März 2020 verbietet der Bundesrat Spitälern und Kliniken sowie Arztpraxen, «nicht dringend angezeigte medizinische Untersuchungen, Behandlungen und Therapien (Eingriffe) durchzuführen» (Art. 10a, Abs. 2). Damit untersagt er den Beschäftigten dieser Gesundheitseinrichtungen einen grossen Teil ihrer Berufstätigkeit. Viele Kliniken und Arztpraxen sind dadurch gezwungen, von der Möglichkeit, Kurzarbeitsentschädigungen zu beantragen, Gebrauch zu machen.
Welche Auswirkungen wird die Corona-Pandemie mittel- und langfristig auf das Schweizer Gesundheitswesen haben?
Ich denke, die Auswirkungen werden vielfältig sein, und viele können wir heute vermutlich noch gar nicht wirklich abschätzen. Ganz bestimmt werden wir nach dieser Krise genau überprüfen müssen, wie wir für Pandemien aufgestellt sind und was wir aus dieser Epidemie gelernt haben. Ein zentrales Thema wird die Versorgungssicherheit sein. Da wird es unter anderem um die Verfügbarkeit von Schutzmaterialien, Desinfektionsmittel, Medikamenten und Impfstoffen gehen, um unsere Abhängigkeit vom Ausland – nicht zuletzt auch was die Fachpersonen angeht –, aber auch um Informationswege, Meldesysteme, Digitalisierung und Telemedizin. Es bleibt spannend abzuwarten, wie sich die Geschehnisse auf die Kostendiskussion auswirken werden. Wir sehen gerade sehr deutlich, dass ein gutes Gesundheitswesen nicht nur Kosten verursacht, sondern auch einen grossen Wert darstellt. Unsere Gesellschaft nimmt aktuell sehr grosse Kosten für die Wirtschaft – und damit letztlich für uns alle – in Kauf, um Lebensjahre zu retten. Die Aufmerksamkeit dafür, dass bei zu knappen Ressourcen nicht alle angemessen behandelt werden können, ist gross. Möglicherweise wird die Wertschätzung unserer Gesundheitsversorgung dadurch beeinflusst und wohl auch die Kosten- und Rationierungsdiskussionen. Auch die vielen Termine in Spital und Praxis, die aktuell abgesagt werden, könnten zu gesundheitlichen Problemen führen, aber zumindest zu längeren Wartezeiten. Auf einige kann auch einfach verzichtet werden. Vielleicht wird sich diese Erfahrung für eine Weile auf die Nutzung des Gesundheitswesens auswirken.
matthias.scholer[at]emh.ch