By the London Post

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19009
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2728):872

Affiliations
Dr. med., Präsident des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF

Publiziert am 30.06.2020

Als Fellow in Seattle hatte ich die Gelegenheit, das New England Journal of Medicine regelmässig zu lesen, und ich versuchte immer, das neuste Heft in der Bibliothek möglichst schnell zu ergattern.
Gespannt war ich jeweils auch auf den neusten Artikel der von John Lister verfassten Serie «By the London Post», die von 1952 bis 1980 monatlich erschien. Darin berichtete er der amerikanischen sowie der internationalen Leserschaft von Entwicklungen und Vorgängen in England, welche die Medizin als Wissenschaft, aber auch den Arztberuf und das Gesundheitswesen betrafen. Treffend, sachlich, mit britischem understatement und Humor informierte er über Wichtiges und Merkwürdiges, Positives und Negatives, und er verstand es, anhand von Beispielen aus dem einen Land Anregungen, aber auch Kritik ins andere Land zu übermitteln – und zwar wechselseitig.
Er zitierte zum Beispiel einen ehemaligen Gesundheitsminister, Enoch Powell, mit der Erkenntnis, die auch uns heutigen Ärzten nicht fremd ist: «The borderland between profession and administration is also the borderland between two types of men in whom train­ing and practice have promoted very different habits of thought.» Der Lösungsvorschlag aus Ministermunde tönt nach diplomatischem Achselzucken: «The boundary between the doctor and the politician should be ­easier to live with if the inherent problems and contrasts are recognized and understood.»
Vor über vierzig Jahren mahnte Lister, alles zu tun, was der jungen Ärztegeneration die notwendigen Kompetenzen vermittelt, gleichzeitig aber eine Überregulierung und Bürokratisierung der Weiterbildung nicht zuzulassen: «The postgraduate education of young graduates is becoming increasingly complex. Certainly, there was a need to improve the training programs both for specialists and for general practitioners, but there now seems to be a danger that these programs may become too rigid. Indeed, a whole new bureaucracy of postgraduate medical education has grown up that generates an increasing number of reports and recommendations.» Ich bin einigermassen zuversichtlich, dass er uns bei einem Blick in die Schweiz heute zubilligen würde, dass wir seine Warnung bestmöglich beherzigen, aber vermutlich würde er sagen: Wehret den Anfängen!
Warum aber erinnere ich mich beim Schreiben dieses «Zu guter Letzt» an die alte London Post, die nicht mehr im Postsack über den Atlantik reist? Ich durchblättere hie und da das British Medical Journal und entdecke immer wieder Artikel, die auch im Hinblick auf offene Fragen bei uns ausgesprochen originell, inter­essant und anregend sind.
Das Editorial der Ausgabe vom 18. Januar trug den Titel «Generalism for specialists: a medical reformation» und weckte meine Aufmerksamkeit auch deswegen, weil ja auch hierzulande immer und immer wieder – eigentlich ziemlich ergebnisarm – über die Notwendigkeit und die Problematik der Spezialisierung, der Subspezialisierung und sogar einer Subsubspezialisierung diskutiert und dabei auch immer wieder – leider erst recht ergebnisarm – das hohe Lied der Generalisten gesungen wird.
Es darf keinesfalls darum gehen, Spezialisten gegen Grundversorger auszuspielen – wir brauchen sie alle. Unbestritten ist, dass zur Durchführung bestimmter anspruchsvoller Interventionen ein Sub- oder sogar Subsubspezialist die geeignetste Person ist. Diese eignet sich auf höchstem Niveau gezielt die Kompetenzen für spezielle Eingriffe oder Techniken an und bewahrt sie, ohne aber selbst die Indikation zu stellen und in die ­Gesamtbetreuung der Patienten einbezogen zu sein. Was nun aber eine Gruppe leitender englischer Ärzte gemeinsam anregt, ist nicht völlig neu, wurde aber in letzter Zeit kaum als Lösungsansatz diskutiert: «We need to combine generalist and specialist skills.»
Mit Blick auf die zunehmende Multimorbidität be­leben die Autoren die Diskussion zur Frage, inwieweit eben auch Spezialisten auf einer generalistischen Grundlage aufbauen müssten: «It is possible and desir­able to have both a specialist and a generalist skill set; a specialist without generalist skills will be ill equipped to deal with many of their patients. Osler’s aphorism, ‘Care more particularly for the individual patient than for the especial features of the disease’ is increasingly important. The pattern of health and disease in our population is changing, and as a profession we must respond.»
Dieser Artikel erinnert mich daran, wie interessant und nützlich es ist, hie und da Post aus London oder von sonst wo zu öffnen. Auch wenn die Probleme und möglichen Wege nicht identisch sind, sehen wir doch immer wieder, dass wir viele Herausforderungen mit anderen teilen und dass es Sinn macht, sich in der Welt nach guten Ideen umzusehen.
werner.bauer[at]saez.ch