Teilzeit und Karriere – Die Ärzteschaft fordert die Spitäler

FMH
Ausgabe
2020/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19132
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(3334):969-970

Affiliations
Kommunikationsspezialistin FMH

Publiziert am 12.08.2020

Er weiss um die Bedürfnisse der Ärzteschaft. Er erkennt die neusten Entwicklungen im Personalwesen, und er ist sich bewusst, dass er den Anforderungen der zu Rekru­tierenden Rechnung tragen muss: Kristian Schneider ist Spitaldirektor im Spitalzentrum Biel. Tag ein, Tag aus flattern ihm Bewerbungsschreiben auf den Tisch, und immer wieder sieht er sich in seiner Einschätzung bestätigt: Spitäler müssen sich von Grund auf neu organisieren und sich dem Bedürfnis ihrer Mitarbeitenden nach Teilzeitarbeit anpassen.
Spitalzentrum Biel,
Kristian Schneider, Spitaldirektor/CEO Spitalzentrum Biel.
Nein, er selbst habe noch nie das Bedürfnis gehabt, Teilzeit zu arbeiten. Er liebe seine Arbeit und möchte diese auch zu 100 Prozent ausüben. Auch seine Lebensumstände erforderten keine Reduktion des Arbeitspensums, wie Kristian Schneider gleich zu Beginn unseres Gesprächs in seinem Büro in Biel zugibt. Doch der heute 49-jährige CEO des Spitalzentrums Biel hat bereits bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren versichert, dass er als Spitaldirektor «die kommenden strategischen Weichenstellungen dezidiert an die Hand nehmen und ebenso die aktuellen wie die künftigen Herausforderungen angehen und erfolgreich meistern will». Zu den dringlichsten Herausforderungen gehöre heute die Reorganisation der Arbeitsbedingungen der Ärzteschaft in den Spitälern, betont Kristian Schneider. Dabei spiele vor allem eine kulturelle Thematik eine immer wichtigere Rolle: «Die Vereinbarkeit von Teilzeitarbeit und Karriere ist ganz sicher ein Schlüsselthema für die Frage, ob wir in Zukunft genügend und vor allem die richtigen Fachkräfte finden, um unsere Leistungen erbringen zu können.» Schon früh sei ihm klar gewesen, dass es nicht die Spitalliste sei, die darüber entscheide, welche Leistungen von einer Institution erbracht würden. Entscheidend würde künftig sein, ob sich die benötigten Fachkräfte für die angestrebten Leistungen finden liessen. «Und genau hier stellt sich für mich die Frage, welche Arbeitszeitmodelle wir unseren Mitarbeitenden anbieten», so Schneider.
Mit dem Wunsch nach Teilzeitarbeit wird Kristian Schneider fast täglich konfrontiert. Ein Wunsch, der eigent­lich alle Berufsgruppen innerhalb des Spitalbetriebs betreffe, aber sich als klarer Trend auch unter den Ärztinnen und Ärzten ausmachen liesse. Immer mehr von ihnen würden gerne Teilzeit arbeiten; dabei spiele die Genderfrage kaum mehr eine Rolle. Sowohl Frauen als auch Männer strebten im Spital ein Berufsleben an, das ohne Dauerstress sei und ein wirkliches Familienleben zulasse, sagt Schneider weiter. «Wir merken, dass sich auf Stellen, die wir als 100-Prozent-Stellen betrachten und als solche ausgeschrieben haben, zunehmend Personen melden, die diese 100 Prozent eigentlich nicht mehr leisten möchten.»
Heute seien es noch meist die kleineren Spitäler, die in dieser wichtigen Entwicklung eine Vorreiterrolle wahrnehmen und eine Karriereplanung trotz Teilzeitpensen ermöglichten. Da sich der Trend zur Teilzeitarbeit aber stetig zuspitze, habe das Spitalzentrum Biel schon vor längerer Zeit reagiert, erklärt der Spital­direktor.
«Ich bin überzeugt, dass ein Karriereschritt heute nicht mehr zwingend gleichbedeutend ist mit einem überdimensionierten Zuwachs an zeitlicher Investition – auch nicht für Kader. Es bleibt aber unbestritten, dass es in einem Spital Positionen gibt, die viel Zeit in Anspruch nehmen.» Es stelle sich einfach die Frage, ob die Institution eine bestimmte Funktion zwingend auf eine Person beziehe oder deren Aufgaben allenfalls auf mehrere Personen aufgeteilt werden könnten. Und ob es überhaupt eine 100-Prozent-Arbeitskraft für eine bestimmte Position brauche? Dies müsse man sich ebenfalls genau überlegen. «Teilzeitarbeit ist unser grosses Thema, und das ist das, was unsere künftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen, da kommen wir um flexible, clevere Lösungen gar nicht drum herum», ist Kristian Schneider überzeugt.
Der erfahrene Manager zeigt aber auch Verständnis für die bis anhin eher zögerliche Entwicklung von Teilzeitpensen in universitären Spitälern. Universitätskliniken stellen sehr differenzierte Anforderungen an die Ärzteschaft. Zum einen sind diese Häuser riesige Ausbildungszentren für Ärztinnen und Ärzte. Zum anderen kommt die Forschung hinzu, die eine grosse Zeitinvestition voraussetzt. Dies sei auch der Grund, weshalb sich gerade auch in Universitätsspitälern das neue Ärztemodell des «Spitalarztes» entwickle. Diese Gruppe von Ärztinnen und Ärzten kümmere sich hauptsächlich um die direkte Behandlung der Patientinnen und Patienten.
Nicht zu vergessen seien in dieser ganzen Problematik die Universitäten selbst, sagt Schneider. «Viele Ärzte haben zwei Anstellungsverträge: einen Vertrag mit dem Spital und einen mit einer Universität. Hier müssten sich die Universitäten überlegen, ob sie bereit sind, einen 100-Prozent-Lehrstuhl zum Beispiel auf zwei niedrigprozentige Professuren zu verteilen, oder ob sie zwingend auf eine einzelne Professur setzen wollen.» Gefordert sei also nicht nur das Spital. Nur wenn alle Akteure – Spitalbetrieb, Forschung sowie Universität – miteinander neue Strukturen ermöglichten, könne eine Karriere im Teilzeitpensum aufgebaut werden.
«Die Forderungen der Ärztinnen und Ärzte, die heute neue Anstellungen suchen und sich auch weiterent­wickeln möchten, sind unmissverständlich. Eine Spitalleitung, die diese Menschen für sich gewinnen will, muss Antworten bereithalten, wie sie sie in ihren Karriere­zielen unterstützen will und kann», ist sich Schneider bewusst. Das beginne schon bei der Kinderbetreuung und gehe weiter bis hin zur Möglichkeit, seitens Spital auf Dienstverpflichtungen über Jahre hinweg zu verzichten, zu denen längst nicht mehr alle Ärztinnen und Ärzte bereit seien. «Im Spitalzentrum Biel haben wir erste Modelle bereits umgesetzt, zum Beispiel in der ärztlichen Ausbildung. Wir haben etwa Ausbildungsstellen auf mehrere Köpfe verteilt. Dies natürlich immer unter dem Vorbehalt, dass die Ausbildung sich dadurch verlängert und dass es auch länger dauern wird, bis sich die Ärzte eine gewisse Erfahrung angeeignet haben.»
Kristian Schneider sieht all diesen Entwicklungen optimistisch entgegen und ist überzeugt, dass im Spital der Zukunft immer mehr leitende Stellen im Teilzeitpensum ausgeübt werden können. Selbst in einer zunehmend spezialisierten Medizin sollte es seiner Meinung nach möglich sein, die Ärzteschaft auf höchstem Niveau auszubilden. «Vielleicht werden diese Ärztinnen und Ärzte ein weniger breites Spektrum an Aufgaben wahrnehmen, so wie wir es bereits in grossen Häusern beobachten. Doch wird uns das längerfristig auch in mittleren und kleineren Häusern helfen, Wissen und Qualität aufrechtzuerhalten. Ich denke also: Ja, wir werden uns anpassen, und wir werden diese Stellen auch bieten.»
mirjam.benaiah[at]fmh.ch