COVID-19 und Praxisambulante Versorgung

Corona-Pandemie sorgt für Mehrkosten von CHF 735 Millionen

FMH
Ausgabe
2020/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19329
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(44):1442-1444

Affiliations
a Experte Abteilung Ambulante Versorgung und Tarife; b Ärztekasse

Publiziert am 27.10.2020

Die COVID-19-Pandemie verursacht nicht nur für die Spitäler erhebliche Aufwände und Verluste. Berechnungen von FMH und Ärztekasse zeigen, dass hochgerechnet auf ein Jahr für die frei praktizierende Ärzteschaft Gesamtkosten von über 735 Millionen Franken entstehen werden. Diese Kosten setzen sich zusammen aus den Verlusten, entstanden durch den Behandlungsstopp während des sechswöchigen Lockdowns, den Mindereinnahmen nach dem Lockdown sowie den Mehrkosten, ver­ursacht durch die Schutzmassnahmen in den Praxen.
Seit Beginn des COVID-19-Ausbruchs sind nicht nur die Spitäler mit erheblichen Kosten konfrontiert, sondern auch die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in den Praxen. Die FMH hat zusammen mit der Ärztekasse die für die Ärzteschaft entstandenen Kosten quantifiziert. Grob lassen sich die Kosten demnach in drei Kategorien einteilen:
Es sind dies erstens die Kosten, verursacht durch den Behandlungsstopp während des sechswöchigen Lockdowns. Damals hatte der Bundesrat entschieden, dass die Praxen und die ambulanten Versorgungsinstitu­tionen zwar nicht geschlossen werden, nicht dringend angezeigte medizinische Behandlungen aber nicht durchgeführt werden sollen.
Zweitens entstanden vor allem zwischen Mai und Juli Kosten, verursacht durch die tiefere Anzahl an Konsultationen und Behandlungen. Viele ältere Patientinnen und Patienten oder solche, die einer Risikogruppe angehören, besuchten auch nach dem Lockdown aus Angst vor einer Ansteckung die Arztpraxen nicht.
Drittens stellen die Mehrkosten bedingt durch zusätzliches Verbrauchsmaterial, verlängerte Wechselzeiten, Mehrkosten für Triage, Beratungen und Instruktionen am Telefon durch den Arzt oder die Medizinische Praxisassistentin (MPA) sowie vermehrte Arbeitsausfälle den grössten Kostenblock dar.

Verluste während und nach dem Lockdown

Der vom Bundesrat verordnete Entscheid, dass nicht dringend angezeigte medizinische Behandlungen während der Dauer des sechswöchigen Lockdowns zu unterlassen seien, führte bei den Arztpraxen und ­ambulanten ärztlichen Zentren zu erheblichen Verlusten. Die Erwerbsausfallentschädigung (EO) für Praxisinhaber wurde de facto verwehrt bzw. nur für aus­gesprochene Härtefälle gewährt.
Ebenso haben sich die Konsultationen und Behandlungen nach dem Lockdown noch immer nicht auf dem ursprünglichen Niveau der Vorjahre eingependelt. Aus Angst vor einer Ansteckung haben es viele Patientinnen und Patienten weiterhin unterlassen, den Arzt ­aufzusuchen.
Zahlen der Ärztekasse zeigen, dass die Arztpraxen kumulativ seit Beginn des Lockdowns lediglich 93 % des Umsatzes der letztjährigen Periode erreichten (siehe dazu Abbildung 1). Bei einem Gesamtumsatz des praxis­ambulanten Sektors im TARMED von CHF 7 Mia., ergibt sich somit ein Umsatzverlust von ca. CHF 500 Mio. ­Aufgrund der Möglichkeit, die Fixkosten durch den Erwerbsersatz für die Kurzarbeit der MPA zumindest teilweise abzusenken, ergibt sich daraus noch ein Ein­kommensverlust von ca. CHF 400 Mio.
Abbildung 1: Umsatz pro Arzt zum Behandlungszeitpunkt 2014–2020 (Quelle: Ärztekasse, 2020): Die Grafik zeigt die kumulative Umsatzentwicklung pro Arztpraxis über die letzten Jahre (2014–2020). Die schwarze Kurve zeigt den Verlauf 2020. Deutlich zu erkennen ist der Umsatzeinbruch im März und das seither deutlich tiefere Niveau, das sich nur sehr langsam wieder an die Vorjahre angleicht. Noch nicht sichtbar ist die Auswirkung der massiv erhöhten COVID-Fallzahlen der letzten Tage.

Mehrkosten verursacht durch die Schutzmassnahmen

Neben den Umsatzeinbussen aufgrund der geringeren Patientenzahl hat die Ärzteschaft im Zusammenhang mit COVID-19 auch mit Mehrkosten zu kämpfen.
Für die medizinischen Praxisassistentinnen (MPA) ­fallen seit Einführung des FMH-Schutzkonzepts vermehrte Aufwände in Zusammenhang mit der Triage der Patienten an. So beraten die MPA Patientinnen und Patienten bei Verdacht auf eine Infektion mit dem Coronavirus am Telefon. Wenn aufgrund der Ein­schätzung der MPA ein COVID-19-Test durchgeführt werden muss, instruiert die MPA die Patienten über das richtige Verhalten bis zum Eintreffen in der Praxis. Solche Mehrkosten, die nicht durch den TARMED-­Tarif gedeckt sind, belaufen sich bei den Grundver­sorgern, die davon mehrheitlich betroffen sind, auf CHF 29 Mio.
Steht ein Patient oder eine Patientin unangemeldet vor der Praxis, muss die MPA steuern, wann dieser überhaupt aufgrund der Belegung des Wartezimmers ­eintreten kann. Danach folgt die Instruktion für die Händedesinfektion und die Kontrolle der Maske. ­Allenfalls muss auch die Körpertemperatur gemessen werden. Diese Aufwände fallen bei allen freipraktizierenden Ärztinnen und Ärzten an und sind nicht über den TARMED-Tarif abgegolten. Total entstehen vor der Behandlung nicht verrechenbare Mehrkosten im Umfang von CHF 46 Mio.
Höhere Aufwände fallen auch in der Wechselzeit an. Die Wechselzeit definiert den durchschnittlichen Zeitaufwand für das Vorbereiten der Infrastruktur zwischen der Behandlung von zwei Patienten. Im Zusammenhang mit dem Coronavirus bedeutet dies das gründliche Lüften der Praxisräume, das Entsorgen von infolge COVID zusätzlich benutztem Material sowie das Desinfizieren von Liegen, Geräten, Türklinken, Tischflächen und Stuhlarmlehnen sowie anderen Gegenständen, mit denen der Patient in Kontakt gekommen ist. Die geschätzten Mehraufwände belaufen sich hier auf CHF 223 Mio. Die erhöhten Aufwände für die Wechselzeit dürften sich in den Umsatzeinbussen (siehe oben) widerspiegeln, weshalb sie in der Berechnung der Gesamtkosten nicht nochmals berücksichtigt wurden.
Vor allem Grundversorgerpraxen haben für die Testung von COVID-19-Verdachtspatienten zusätzliche Flächen, ausserhalb der Praxisräumlichkeiten, hinzu gemietet. Es ist allerdings davon auszugehen, dass dies nur für einen Teil der Grundversorgerpraxen der Fall ist. Hochgerechnet ist von Mehrkosten von CHF 6 Mio. auszugehen.
Aufgrund des Virus kommt es aber auch zu vermehrten Arbeitsausfällen bei den medizinischen Praxis­assistentinnen: Um eine Infektion mit COVID-19 ausschliessen zu können, müssen die MPA bei Auftreten von Symptomen vermehrt zu Hause bleiben. Dies wird auch so gehandhabt, wenn ein Kind der MPA Symptome aufweist. Zudem können schwangere MPA wegen des erhöhten Risikos einer Ansteckung nicht mehr in der Praxis arbeiten. Die FMH rechnet dafür über alle Fachärzte und Praxen für das ganze Jahr mit Mehrkosten von CHF 139 Mio.
Schliesslich kommt es auch beim Verbrauchsmaterial aufgrund des vermehrten Einsatzes von Desinfektionsmitteln, Handschuhen, Mundschutz sowie Einweg-Schutzkleidung zu erheblichen Mehrkosten. Bei durchschnittlichen Kosten von CHF 2.00 pro Patient und durchschnittlich 17 Patienten pro Tag belaufen sich die Mehrkosten, die nicht über TARMED abgedeckt sind, auf CHF 115.
Für die Arztpraxen ist hochgerechnet auf ein ganzes Jahr demnach mit Mehrkosten von rund CHF 558 Mio. zu rechnen (inkl. Mehraufwände der Wechselzeit).

Gesamtkosten von CHF 735 Mio.

Zusammenfassend ist für die praxisambulante Versorgung in der Schweiz demnach mit ca. CHF 735 Mio. Mehrkosten zu rechnen (siehe dazu Tabelle 1). Die FMH hat Bundesrat Alain Berset Ende September 2020 darüber in Kenntnis gesetzt. Er hatte bereits im August 2020 kommuniziert, dass sich der Bund allenfalls an entstandenen Mehrkosten beteiligen würde. Ausgeschlossen hat der Bundesrat die Deckung von Ver­lusten aufgrund von Mindereinnahmen, verursacht durch den Behandlungsstopp sowie aufgrund der Zurverfügungstellung von Vorhalteleistungen.
Tabelle 1: COVID-19-induzierte Kosten für die freipraktizierenden Ärztinnen und Ärzte.
KostenartenMehrkosten [CHF]
Prognostizierter Verlust seit Ende des Behandlungsstopps400 Mio.
Mehrkosten verursacht durch die Schutzmassnahmen (ohne Mehrkosten für Wechselzeit)335 Mio.
 Mehrkosten für Triage, Beratungen und Instruktionen am Telefon29 Mio.
 Mehrkosten vor der Behandlung46 Mio.
 Mehrkosten in der Wechselzeit223 Mio. (Schon über Umsatzeinbusse berücksichtigt)
 Mehrkosten für Sonderflächen ausserhalb der Praxis6 Mio.
 Mehrkosten in Zusammenhang mit vermehrten Arbeitsausfällen139 Mio.
 Mehrkosten für zusätzliches Verbrauchsmaterial115 Mio.
Total  735 Mio.
Für die Arztpraxen und ambulanten ärztlichen Zen-
tren kann demnach lediglich von einer möglichen Entschädigung in der Höhe von ca. CHF 558 Mio. (inkl. Mehrkosten für Wechselzeit) ausgegangen werden.
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