Die Inversion der ­Tellerwäscher-Karriere

FMH
Ausgabe
2020/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19363
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(45):1486

Affiliations
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortlicher Stationäre Versorgung und Tarife

Publiziert am 04.11.2020

Unser Programm «Coach my Career» hilft jungen ­Ärztinnen und Ärzten, ihre Karriere bewusster zu gestalten. Der berufliche Aufstieg ist in der Gesellschaft wichtig, und wir haben spezifische Begriffe dafür. Man spricht zum Beispiel von der «Karriereleiter» oder von der «Tellerwäscher-Karriere». Entsprechend wird sehr viel in den beruflichen Aufstieg investiert. Das Gleiche macht man auch beim Bergsteigen – und übersieht dabei oft die Gefahren, die der anschlies­sende Abstieg birgt. Ein Umstand, an den uns das Drama bei der Erstbesteigung des Matterhorns immer wieder erinnert.
Was wissen und was tun wir in Hinblick auf den ­Abstieg vom beruflichen Gipfel? Gibt es in der Ge­sellschaft analoge Begriffe wie die «Tellerwäscher-Karriere» auch für den beruflichen Ausstieg? Haben wir Vorbilder bei unseren akademischen und praktischen Lehrmeistern? Wer kennt nicht den alternden Pro­fessor, der noch mit 80 oder 90 zu jeder Lehrveranstaltung seiner früheren Institution kommt und nach dem Vortrag die erste Frage stellt? Kennen Sie auch den Praktiker, der im hohen Alter noch immer seine (noch) älteren Patienten betreut? Das ist dann in der Bergwelt vielleicht eher mit dem Verbleiben auf einem Hochplateau vergleichbar. Andere legen mit 65 das Skalpell zur Seite und widmen sich der Musik oder der bildenden Kunst. Das wäre wohl mit einer zweiten, neuen Bergtour zu vergleichen. Die zweite Tour er­fordert bereits vor dem Beginn des Aufstiegs weitsichtige Vorbereitungen und setzt eine gute Gesundheit voraus.
Wer sagt einem während des Rennens um die beste Ausgangsposition für den nächsten Karriereschritt im Spital, dass es später einen Abstieg geben wird, der vorbereitet sein will? Der Vorteil der ärztlichen Spitalkarriere ist, dass man immer eine Praxis eröffnen kann, wenn der Karriereschritt misslingt – und oft erst dann merkt, wie befriedigend und befreiend dieser Weg ist. Nähert sich später das Pensionsalter, so stellen sich neue Fragen. Das eigene Altern wird langsam zur Realität. Mache ich einfach über das AHV-Alter hinaus so weiter wie bisher, kann ich die Auseinandersetzung mit den eigenen Altersgrenzen vermeiden, und auch in der Beziehung braucht es kaum eine Anpassungsleistung. Tritt man stattdessen beruflich kürzer oder hört ganz auf, so fehlen plötzlich die Anregungen des bisherigen Alltags. Das kann zu einer ungewohnten Leere führen, und man ist gezwungen, sich selbst neu zu erfinden im Rahmen der verbleibenden Möglichkeiten. Je mehr man schon während der Berufstätigkeit auch ausserhalb des beruflichen Umfeldes Interessen und Kontakte gepflegt hatte, umso leichter gelingt erfahrungsgemäss die eigene Neudefinition. Und wer dann viel öfter zu Hause ist, wird wohl auch innerhalb der Partnerschaft vermehrt in die Küche gebeten und macht nach dem beruflichen Ausstieg eine inverse ­Tellerwäscher-Karriere – von der Topposition zurück in die Küche. Deshalb ist es wichtig, Ärztinnen und Ärzte im Spital während des Rennens um den Aufstieg ­immer wieder darauf hinzuweisen, dass es ein Leben ausserhalb der Spitalmauern gibt und später auch nach Abschluss der Berufstätigkeit geben wird.
Und ich selbst? Nach langen Jahren als Chefarzt und Verantwortlicher einer komplexen Organisation wollte ich kürzertreten und eine Nachfolge aufbauen. Der Verwaltungsrat war anderer Meinung, so dass ich ausschied. Das öffnete den Weg in den Zentralvorstand der FMH. Diese Arbeit war sehr befriedigend, aber meine Gesundheit bescherte mir ein Hochrisikoprofil für Corona, worauf ich auf eine erneute Kandidatur verzichten musste. Zum Glück hatte ich neben der ­beruflichen auch immer die private Welt gepflegt und sehe nun dem Tellerwaschen mit Freude entgegen. ­Damit haben Sie mein letztes Editorial gelesen, wofür ich Ihnen herzlich danke.