Berufsausübungsbewilligung für die Gutachtertätigkeit

FMH
Ausgabe
2020/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19462
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(5152):1718-1719

Affiliations
Dr. iur., Rechtsanwältin, Co-Leiterin Gutachterstelle, FMH

Publiziert am 15.12.2020

In einem Arzthaftungsfall ist die Expertenmeinung für die Klärung des medizi­nischen Sachverhalts unumgänglich. Die Experten und Expertinnen haben für die Gutachtertätigkeit verschiedene Kriterien zu erfüllen. Insbesondere stellt sich die Frage, ob es für die reine Gutachtertätigkeit einer Berufsausübungsbewilligung bedarf.
Um für die FMH-Gutachterstelle als Gutachter oder Gutachterin tätig werden zu können, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Hierbei ist zwischen persönlichen und formellen Kriterien zu unterscheiden.

Persönliche und formelle Kriterien für die Ausübung der Gutachtertätigkeit

In persönlicher Hinsicht darf der Gutachter oder die Gutachterin in Bezug auf den zu beurteilenden Fall nicht befangen sein. Als weiteres persönliches Kriterium zählt die Fachkompetenz. Der Gutachter und die Gutachterin müssen kompetent sein, um die im Haftungsfall zur Diskussion stehende ärzt­liche Behandlung gutachterlich beurteilen zu können. Dies bedeutet, die Experten müssen dieselbe Fachkompetenz wie der zu beurteilende Arzt oder die zu beurteilende Ärztin ausweisen und mit der zu be­urteilenden Behandlungsmethode vertraut sein.
In formeller Hinsicht bedarf es einerseits nicht nur für die ärztliche Behandlungstätigkeit, sondern auch für die Gutachtertätigkeit einer Berufshaftpflichtver­sicherung, da der Gutachter und die Gutachterin nicht nur strafrechtlich, sondern auch zivilrechtlich für eine ­unsorgfältige Begutachtung haften können [1]. Andererseits stellt sich die Frage, ob für die Gutachtertätigkeit als weitere formelle Voraussetzung eine Berufsausübungsbewilligung notwendig ist.

Die Berufsausübungsbewilligung

Alle Ärztinnen und Ärzte, die ihren Beruf in eigener fachlichen Verantwortung selbständig oder angestellt ausüben wollen, benötigen eine Berufsausübungsbewilligung des Tätigkeitskantons (sogenannte Polizeierlaubnis) [2]. Das Medizinalberufegesetz verlangt als Voraussetzungen für die Bewilligung zur ärztlichen Tätigkeit in eigener fachlicher Verantwortung kumulativ:
– ein eidgenössisches oder anerkanntes ausländisches Arztdiplom;
– einen eidgenössischen Weiterbildungstitel oder anerkannten ausländischen Weiterbildungstitel;
– Vertrauenswürdigkeit sowie physische und psychische Gewähr für eine einwandfreie Berufsausübung;
– notwendige Kenntnisse einer Amtssprache des Kantons, für welchen die Bewilligung beantragt wird.
Wer diese gesamtschweizerisch festgelegten Voraussetzungen erfüllt, hat einen Rechtsanspruch auf die Erteilung der kantonalen Berufsausübungsbewilligung.
Vom Recht zur Berufsausübung ist das Recht zu unterscheiden, Patienten zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung behandeln zu dürfen. Die Voraussetzungen dafür sind im Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) geregelt.

Bundesgerichtsentscheid vom 3. ­Dezember 2012 (BGE 8C_436/2012)

Ist die Gutachtertätigkeit auch Teil der ärztlichen Tätigkeit und bedarf somit einer Polizeierlaubnis?
In einem vom Bundesgericht beurteilten Fall stellte eine Explorandin aufgrund eines Schleudertraumas einen Leistungsanspruch bei der Invalidenversicherung. Der Rentenanspruch wurde auf der Grundlage einer Expertise der MEDAS verneint. Die Explorandin gelangte mit der Begründung an das Bundesgericht, das MEDAS-Gutachten sei widerrechtlich zustande gekommen, da der Gutachter zum Zeitpunkt seiner Begutachtung nicht über die erforderliche Bewilligung zur Berufsausübung verfügt habe. Das MEDAS-Gutachten wurde im Jahr 2009 erstellt, die Berufsausübungs­bewilligung wurde dem Gutachter erst im Jahr 2011 erteilt.
Das Bundesgericht kam zu folgendem Schluss: «[…] Auch wenn der Gutachter […] durch die im Zeitpunkt der Begutachtung im September 2009 fehlende Berufsausübungsbewilligung formell gesetzwidrig seine Gutachtertätigkeit ausgeübt hatte, waren die materiellen Voraussetzungen zur Erteilung der die öffentliche Gesundheit schützenden Polizeibewilligung unstrittig bereits dannzumal erfüllt gewesen […]» [3]. Die fehlende Polizeierlaubnis des Gutachters führte somit nicht zu einem Beweisverwertungsverbot.
Daraus lässt sich schliessen, dass eine Gutachter­tätigkeit, die ohne Berufsausübungsbewilligung ausgeübt wird, formell gesetzwidrig ist.

Und wie ist die Haltung der Kantone?

Nur gerade der Kanton Thurgau kennt in seinem Gesundheitsgesetz die Bewilligungspflicht für in eigener fachlicher Verantwortung tätige Gutachter [4].
Das Ergebnis einer schweizweiten Umfrage bei den zuständigen kantonalen Gesundheitsdepartementen zeigt, dass gemäss kantonaler Praxis auch Gutachter über eine gültige Bewilligung für die fachlich eigenverantwortliche Berufsausübung verfügen müssen.
Es besteht die überwiegende Ansicht, dass jede fachliche eigenverantwortliche Tätigkeit als Arzt oder Ärztin bewilligungspflichtig ist. Auch die Tätigkeit als fachlich eigenverantwortlicher Gutachter oder fachlich eigenverantwortliche Gutachterin fällt unter die Bewilligungspflicht.
Die Gesundheitsgesetze der Kantone erwähnen die Gutachter und Gutachterinnen zwar nicht ausdrücklich, nach ständiger Behördenpraxis wenden sie die ­Bestimmungen jedoch dahingehend an, dass auch ärzt­liche Gutachter und Gutachterinnen, welche ihre ärztliche Tätigkeit aufgegeben haben, einer Berufsausübungsbewilligung bedürfen.
Auch das ärztliche Gutachten wird somit letztlich als Teil der ärztlichen Tätigkeit interpretiert.

Schlussfolgerung

Gutachter bedürfen für ihre Gutachtertätigkeit einer Berufsausübungsbewilligung des Tätigkeitskantons. Zu diesem Schluss kommt nicht nur das Bundesgericht, es entspricht auch der Praxis der meisten Kantone.
Gutachter haben grundsätzlich immer die Aufgabe, ­einen bestimmten Sachverhalt detailliert zu prüfen, einzuordnen und eine Beurteilung abzugeben. Diese stützt sich auf medizinisches Fachwissen, bedingt eine objektive Befundung und – zumindest bei der FMH-Gutachterstelle – eine persönliche Untersuchung des Patienten oder der Patientin. In diesem Sinne ist eine medizinische Tätigkeit festzustellen, womit es für die Gutachtertätigkeit einer Berufsausübungsbewilligung bedarf.
Eine Berufsausübungsbewilligung wird grundsätzlich unbefristet erteilt. Auch wenn bei einer Aufgabe der ärztlichen Tätigkeit der Status im Medizinalberufe­register auf inaktiv gesetzt wird, bleibt die Bewilligung bestehen. Die FMH-Gutachterstelle legt besonderen Wert auf die Unbefangenheit und Fachkompetenz der Gutachter und Gutachterinnen. Das Vorhandensein ­einer Berufsausübungsbewilligung liegt in der Eigenverantwortung des jeweiligen Experten oder der jeweiligen Expertin.
FMH
Dr. iur. Caroline Hartmann
Nussbaumstrasse 29
CH-3000 Bern 15
Caroline.hartmann[at]fmh.ch
1 Strafrechtliche Haftung gemäss Art. 307 und Art. 318 des ­Schweizerischen Strafgesetzbuches; Zivilrechtliche Haftung ­gemäss Art. 394ff des Schweizerischen Obligationenrechts.
2 Art. 34 des Schweizerischen Medizinalberufegesetzes.
3 BGE 8C_436/2012 E. 3.4.
4 § 8 und § 9 des Gesundheitsgesetzes Thurgau.