Horizonte

Nautilus – Newton

DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2021.18911
Veröffentlichung: 03.02.2021
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(05):195

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Der grosse Newton sass an einem Strand

und hielt zwei Muscheln in der Hand,

die ihm das weite Meer in seine Hand gespült.

Er greift sie, tastet, wägt und fühlt,

noch während seine Blicke über die unendlich weiten

Flächen dieses leicht bewegten Meeres gleiten,

dass Formen ein Geheimnis hüten,

die Anlass zum Studieren bieten.

Abends dann, zu Haus’ im stillen Zimmer

leuchten dieser Muscheln zarte Schimmer,

und er zeichnet sorgsam ihre Schatten,

die die Kerzen aufs Papier geworfen hatten.

Diese schönen Halbmondformen

gliedern sich nach strengen Normen

an die gleichgeformten Nachbarzellen.

Er markiert auf ihnen feine Stellen,

und in ihrer Strichverbindung

legt sich zeichnend eine Windung

auf die harte Muschelschale:

wie für Himmelskörper die Spirale.

Und mit dieser kann er messen

und dabei sich selbst vergessen;

schreitet fort in der Erkundung,

legt Tangenten an die Rundung,

deren Schnittpunkt er verbindet,

misst und rechnet, bis er findet,

dass die Winkel, die sich dort befreien,

stets an jedem Ort identisch seien.

Das Äquiangularprinzip ist formuliert,

das seither fast ein jedes Lehrbuch ziert.

Isaac Newton gibt sich keine Blösse

und berechnet auch die Grösse,

oder um wie viel die Zellen

in der strengen Ordnung schwellen,

wenn sie um die starren Achsen

grösser werdend stetig wachsen,

und er schreibt sich «sechs Prozent»

auf das gelbe Pergament

und erkennt darin ein Drittes:

das Verhältnis Gold’nen Schnittes.

Als er das Prinzip erkannte

und befriedigt sich entspannte,

sieht er plötzlich noch inmitten

seiner Bücher Margeriten,

die als Gruss aus einer andern Welt

eine liebe Hand ihm auf den Tisch gestellt.

Doch sein Auge, weil es liebt,

ist in der Betrachtung schon geübt

und erkennt im Blütenkelche

wieder die Gesetze, welche

ihn im Muschelbild beglücken

nun durch diese Blumen ebenso entzücken.

Freude und Begeisterung

halten diesen Mann in Schwung,

er erkennt aus den Naturspiralen

auch die Fibonacci-Zahlen,

glaubt, das Urprinzip, das er gewonnen,

gelte auch für ferne Sonnen.

Doch in unsern Lebenswelten

können nur Gesetze gelten,

die die Form, das Wachstum, einbeziehen,

die dem Leben Kraft verliehen.

Newton, der sich selbst dagegen wehrt,

wird dann von der Menge sehr verehrt,

denn er habe in den Abendstunden

das Prinzip des Lebens fast gefunden.

Und er geht zurück zum Strand,

wo er diese Muscheln fand,

die als Wirklichkeit gespiegelt,

was sich im Gesetz entsiegelt.

Und er wirft dann diese beiden,

schwungvoll zwar, doch ganz bescheiden,

wieder in das Meer zurück

und behält für sich sein Glück.

Denn er wird als Greis zum Kind,

weiss, dass wir nicht die Natur betrachten,

sondern nur die Bilder, die wir von ihr machten,

spürt, dass auch Erkenntnis, Wissen, Lehre

Stückwerk, angesichts der grossen Meere

höchstens kleine Muscheln sind.

Prof. Dr. med. Jürg Kesselring, Valens

Credits

© Lorna Roberts | Dreamstime.com, Symbolbild

Korrespondenzadresse

juerg.kesselring[at]bluewin.ch

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