Interview mit der neuen Präsidentin des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF)

«Bergsteigen hat mich gelehrt, vorsichtig zu sein»

FMH
Ausgabe
2021/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19608
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(09):314-316

Affiliations
Redaktorin SÄZ

Publiziert am 03.03.2021

Monika Brodmann Maeder wurde Ende Oktober 2020 zur neuen SIWF-Präsidentin gewählt. Als Notfall- und Gebirgsärztin bildete sie nicht nur zahllose Rettungs­teams aus, sondern erlebte auch heikle Situationen, in denen Respekt und Flexi­bilität gefragt waren. Prägende Erfahrungen, die ihr im neuen Amt zu­gutekommen werden.

Zur Person

PD Dr. med. et MME Monika Brodmann Maeder studierte in Basel Medizin. Als Notfall- und Gebirgsmedizinerin arbeitete die Interlakerin mehr als zehn Jahre auf den Gebirgsbasen der Luft­rettungsorganisation Rega und war während dreier Jahre für die Weiterbildung aller Rega-Helikopterteams in der Schweiz verantwortlich. Monika Brodmann absolvierte einen Masterstudiengang in Medical Education (MME) der Universität Bern. Dabei setzte sich die Ärztin intensiv mit dem Thema Interprofessionelle Weiterbildung auseinander, was ihr später erlaubte, ihre Expertise in diesem Bereich im Berufsalltag einfliessen zu lassen. Die 58-jährige Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin mit Fähigkeitsausweisen in präklinischer und klinischer Notfallmedizin war bis vor kurzem Leitende Ärztin am Universitären Notfallzentrum des Inselspitals Bern. Im Jahr 2020 habilitierte sie an der Universität Bern. Am Institut für Alpine Notfallmedizin in Bozen (I) ist Brodmann noch kurze Zeit als Senior Researcher tätig.
Monika Brodmann Maeder: «Die Kompetenzorientierung ist ein zentraler Aspekt, den ich in Angriff nehmen möchte. Es geht darum, vom Ansatz ‘Anzahl Jahre’ wegzukommen.»
Frau Brodmann Maeder, Sie sind seit dem 1. Februar 2021 die höchste Verantwortliche für die ärztliche Weiter- und Fortbildung in der Schweiz. Wie fühlen Sie sich dabei?
Ich freue mich sehr, die Nachfolgerin von Werner Bauer zu sein und die Spitze des SIWF übernehmen zu dürfen. Umso mehr, weil das Wahlverfahren aufgrund der Corona-Lage sehr lange dauerte und meine Ernennung mich selbst überrascht hat.
Wieso überrascht?
Innerhalb der FMH war ich bis jetzt ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Das passte offenbar nicht allen. Es gab Stimmen, die fanden, Nathalie Koch (Anm. d. Red.: die zweite Kandidatin) und ich seien zwar valable Kandidatinnen, aber sie hätten lieber jemanden mit mehr standespolitischem Hintergrund gehabt.
Sie engagieren sich schon lang für die Weiter- und Fortbildung. Weshalb?
Mein Interesse an der Wissensvermittlung fing bereits während der Assistenzzeit an – zuerst mit Vorträgen, dann mit vielen praktischen Kursen, vor allem im ­Bereich der Notfallmedizin. Sehr schnell merkte ich, dass es mir wichtig ist, einerseits klinisch tätig zu sein und andererseits die gesammelte Expertise an andere weitergeben zu können – und dies nicht nur im ärzt­lichen Bereich, sondern auch interprofessionell. Mit dem Master of Medical Education gelang mir eine Professionalisierung dieses Tätigkeitsfeldes.
Welche anderen Erfahrungen und Kompetenzen können Sie beim SIWF einbringen?
Meine 30 Jahre klinischer Tätigkeit decken ein breites Spektrum ab: Ich arbeitete in der Inneren Medizin, Chirurgie, Anästhesie, Rehabilitation, im ambulanten Bereich sowie in der universitären Notfallmedizin. In Bezug auf Weiterbildung hat mich die Notfallmedizin am meisten geprägt, da hier die verschiedensten ­Spe­zialistinnen und Spezialisten aufeinandertreffen. ­Gehört die Vorderarmfraktur in den Bereich der ­Orthopädie oder der Handchirurgie? Die Diskushernie eher zur Neurochirurgie oder Orthopädie? Diese Überlappungen werden mich auch als SIWF-Präsidentin ­beschäftigen.
Sie haben sich in der Rettungs- und Bergmedizin spezialisiert. Weshalb?
Als Bergsteigerin war das Interesse an der Bergmedizin eine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig habe ich mich auch für Notfallmedizin interessiert. Damit war der Weg zur Spezialisierung in der Gebirgsnotfallmedizin – immer im Rahmen meines Facharzttitels für Allgemeine Innere Medizin – eine logische Folge.
Gibt es Erfahrungen aus diesen Bereichen, die 
in Ihrem neuen Amt nützlich sein werden?
Mein Ziel ist es sicher nicht, alles von einem Tag zum anderen umzukrempeln. Ich werde am Anfang viel ­beobachten und Fragen stellen. Wie in den Bergen kommt man nicht immer direkt zum Ziel. Es gibt ­immer wieder Hindernisse, die Umwege erfordern. Man muss auch die Ruhe bewahren können, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist.
Durch meine Erfahrungen in den Bergen und in der präklinischen Notfallmedizin habe ich zudem gelernt, flexibel zu reagieren. Rettungssituationen erfordern viel Improvisation. Als SIWF-Präsidentin ist es mir wichtig, nicht einfach irgendeiner unrealistischen Vision zu folgen, sondern zu versuchen, möglichst viel aus dem Vorhandenen zu machen und immer wieder Neues einzubringen.
Schlussendlich hat mich die Bergwelt Respekt und Wertschätzung gelehrt. Ich durfte mit Menschen aus verschiedenen Berufen, Kulturen und Lebenshintergründen zusammenarbeiten, beispielsweise mit Sherpas oder Bergführern aus Nepal. Für eine gute Zusammenarbeit und konstruktive Diskussionen braucht es gegenseitigen Respekt.
Haben Sie in Ihrer Position eine Vorbildfunktion für junge Frauen?
Ja, das sehe ich als eine wichtige Aufgabe. Frauen in ­Kaderpositionen wie Yvonne Gilli, Anne Lévy vom BAG und ich müssen Vorbilder sein, um jüngeren Ärztinnen zu zeigen, dass sie so etwas auch können. Wir Frauen müssen genug selbstbewusst sein, um uns zu trauen, die gewünschte Karriere einzuschlagen. Einige Ärztinnen brechen während der Weiterbildung ihre Laufbahn ab, weil es an den nötigen Rahmenbedingungen fehlt, die beispielsweise Teilzeitpensen ­erlauben. Teilzeitarbeit und fundierte Weiterbildung müssen vereinbar sein. Dazu braucht es ein Umdenken von bloss einer bestimmten Anzahl Weiterbildungsjahren hin zu Kompetenzen.
Können Sie das konkretisieren?
Die Kompetenzorientierung ist ein zentraler Aspekt, den ich rasch in Angriff nehmen möchte. Es geht ­darum, vom heutigen Ansatz «ich muss so und so viele Jahre absolvieren, um den Facharzttitel zu bekommen» wegzukommen. Künftig werden Ärztinnen und Ärzte zeigen müssen, dass sie über die Kompetenzen verfügen, die für einen bestimmten Facharzttitel definiert sind – egal, ob sie dafür 5, 8 oder 10 Jahre brauchen. Zudem sollten wir ein Kontinuum von der ­Aus- bis zur Weiterbildung anstreben. Die ärztliche Grund­ausbildung wurde vor fünf Jahren in dieser Richtung neugestaltet. Die Lernziele wurden in Entrustable Profes­sional Activities, sogenannte EPAs, aufgeteilt: Kompetenzen, die an Komplexität kontinuierlich zu­nehmen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Im Studium werden zuerst Herzmassage und Beatmung gelernt, dann der Umgang mit dem Defibrillator. In der Assistenzzeit lernt man dann Beatmungsmassnahmen und medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten. Auf dem höchsten Kompetenzlevel lernen die Weiterzubildenden schlussendlich zu beurteilen, ob jemand unter Reanimation in eine Koronarangiografie gebracht werden kann und welche Kriterien diese Person dafür erfüllen muss. Diese höchste Kompetenz muss von Notfallmedizinerinnen und -medizinern ­abgedeckt werden, bringt hingegen einer Ärztin in der Grundversorgung wenig bis nichts. Sie muss aber die Grundlagen der Reanimation kennen, um die erste Behandlung initiieren zu können, bis die Fachspezialistin den Patienten übernimmt.
Wie schätzen Sie die heutigen administrativen Hürden im Weiter- und Fortbildungsbereich ein?
Im elfjährigen Bestehen des SIWF wurde extrem viel geleistet. Ich kann nur den Hut ziehen. Bürokratie bleibt aber ein Problem, vor allem bei der Kontrolle: Die Facharzttitel-Erteilung läuft nach wie vor auf dem Papierweg. Mit dem elektronischen Logbuch sollte das Verfahren künftig vereinfacht werden. Der rein administrative Aufwand darf nicht nur beim SIWF liegen, sondern auch bei der Person, die einen Titel anstrebt. Sie muss mehr Verantwortung bei der Dateneingabe übernehmen.
Die Kontrollen und allfällige Sanktionen bei der ärzt­lichen Fortbildung birgt viel Diskussionsstoff. Wir müssen eine Lösung finden, die ermöglicht, auf eine gute Art zu dokumentieren, dass die Fortbildung gemacht worden ist, möglichst ohne Zwang. Der Prozess sollte die innere Motivation, sich weiter- und fortzubilden und Kompetenzen aufzubauen, widerspiegeln.
Welche Rolle spielt die Weiter- und Fortbildung in Bezug auf die Qualität der ärztlichen Versorgung?
Die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig ein gut funktionierendes Gesundheitswesen ist. Dabei ist die Qualität der ärztlichen und nichtärztlichen Betreuung entscheidend. Somit spielt die medizinische Weiter- und Fortbildung eine zentrale Rolle. Wenn das Gesundheits­personal sich nicht mit neuem Wissen auseinandersetzt, wird mit der Zeit die Qualität abnehmen. In den letzten Jahren hat die Bildung vor allem bei den nichtärztlichen Gesundheitsberufen einen enormen Qualitätszuwachs erfahren. Um die Herausforderungen der Zukunft meistern zu können, müssen wir vermehrt auf Interprofessionalität setzen – auch beim SIWF.
Ärztemangel, zunehmende Nachfrage an medi­zinischen Leistungen, Digitalisierung, technischer Fortschritt und alternde Bevölkerung: Inwiefern kann die Weiter- und Fortbildung dazu beitragen, die aktuellen und künftigen Herausforderungen des Gesundheitswesens zu bewältigen?
Der Beruf muss attraktiv bleiben. Zu viel Zwang sowie finanzielle Überlegungen sind kontraproduktiv. Gute Angebote müssen aufgebaut und unterstützt werden, um einen kontinuierlichen Zuwachs an Kompetenzen zu erreichen. Personen, die selber in der Lehre tätig sind, brauchen Unterstützung.
Welche Rolle spielen wissenschaftliche Zeitschriften wie das «Swiss Medical Forum»?
Sie spielen eine wichtige Rolle. Dabei ist die Qualität der Artikel entscheidend. Ich muss mich auf eine ­Publikation verlassen können, sei es für die klinische Tätigkeit oder für mein eigenes Interesse.
Welche Ziele haben Sie sich für die Anfangsphase gesteckt?
Momentan bin ich noch in der Einarbeitungsphase. Ich muss mir zuerst einen guten Überblick verschaffen, um zu sehen, was innerhalb des SIWF gut läuft und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Zudem nehme ich Kontakt mit den Leuten auf, die eng mit uns zusammenarbeiten. Ich möchte aber auch die Kontakte nutzen, die ich in all meinen Jahren in der Klinik und in der Bildung aufgebaut habe. Mir ist es wichtig, nah an den Basisorganisationen, sprich der klinisch tätigen Ärzteschaft, zu bleiben. Und ich werde versuchen, ­immer ein offenes Ohr zu haben.
julia.rippstein[at]emh.ch