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Vom Lernprozess des Ärztenetzwerks xundart
Innovative und wissenschaftlich fundierte Qualitätsentwicklung
a Dr. phil., Dozentin Berner Fachhochschule Soziale Arbeit, Evaluatorin Pilotprojekt xundart; b Dr. med., Präsidentin der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) und Mitglied des Verwaltungsrats xundart
Systemische und reflexive Qualitätsentwicklung ist ein Anliegen des Ostschweizer Ärztenetzwerks xundart. Gerade nicht-quantitative Qualitätsarbeit erfordert von den Mitgliedern einer Organisation Vertrauen, Offenheit zur Selbst- und Fremdbeobachtung und die Bereitschaft, aus den eigenen Komfortzonen herauszutreten. Vonseiten der Verantwortlichen sind sorgfältige Kommunikationsarbeit, Fingerspitzengefühl und Geduld gefragt.
Qualitätsneuland bei xundart
Das Ostschweizer Ärztenetzwerk xundart hat in den vergangenen Jahren unter der Leitung eines interdisziplinären Projektteams1 beträchtliche Ressourcen in eine massgeschneiderte, systemische und reflexive Qualitätsentwicklung gesteckt. Diese geht von den Prämissen aus, dass die ärztliche Tätigkeit eine medizinische und soziale Tätigkeit ist, dass Ärztinnen und Ärzte Mediziner und Menschen sind und dass Gesundheit ein komplexes biopsychosoziales Geschehen ist. Obschon diese Feststellung trivial klingt, ist die Berücksichtigung der vielfältigen Zusammenhänge in der Qualitätsentwicklung keineswegs trivial. Auf Grundlage der genannten Prämissen befasste sich ein Qualitätszirkel (QZ) von xundart im Rahmen eines Pilotversuchs 2020 mit neuen Formen der QZ-Arbeit. Ergänzend zu den «regulären» QZ-Treffen wurden Anlässe durchgeführt, bei denen sich die Teilnehmenden mit qualitätswirksamen Aspekten einer Sprechstunde befassten. Dies sind z.B. die Individualität von Ärztin bzw. Arzt, von Patientin und Patient, die Beziehung zwischen Ärztin und Patient, das Prozess- und Zeitmanagement, die Struktur und Organisation der ärztlichen Tätigkeit. Wie werden Ärztinnen und Ärzte an solche Prozesse herangeführt und durch sie begleitet?
Kollektive Lern- und Weiterbildungsprozesse der Ärztinnen und Ärzte
Das gemeinsame Lernen in den QZ erfolgte über theoretische Inputs, Praxisbezüge und veranschaulichende Übungen. In den Wochen zwischen den QZ wurden ausgewählte Aspekte dieser Inputs in der eigenen Sprechstundentätigkeit im Rahmen von Lernjournalen vertieft. Im ersten Teil des darauffolgenden QZ wurden diese individuellen Vertiefungen mit Hilfe zweier inhaltsanalytischer Verfahren kollektiv reflektiert.
Die neuere Reflexionsforschung weist der sozialen Komponente von Reflexivität grosse Bedeutung zu. Durch die Interaktion mit anderen gehen die Individuen in Distanz zu ihren Biographien, sozialen Welten sowie Erfahrungen und lernen andere Interpretationsmöglichkeiten sozialer Wirklichkeit kennen [1]. Gruppen identifizieren im Diskurs konflikthafte Ideen oder Uneinigkeiten und konstruieren ein gemeinsames Verständnis der im Zentrum stehenden Thematik. Ohlsson [2] zeigt in diesem Zusammenhang, dass das Lernen in sozialen Kontexten durch sogenannte double-loops erfolgt: durch die individuelle Aneignung und die Exponierung des Einzelnen für alternative Interpretationen seiner Wirklichkeit. Durch die Erfahrung von Verschiedenheit und das Hinterfragen von eigenen Selbstverständlichkeiten wird das Eigene anders gesehen oder verstärkt. Solche institutionalisierten Formen von Reflexivität sind zentraler Bestandteil lernender Organisationen [3].
Bisheriges anders sehen und Neues entdecken
In ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Potenzial des reflexiven Schreibens für die professionelle Entwicklung zeigt Bolton ein Charakteristikum von Lernjournalen auf: sich sowohl mit der Vergangenheit, der Gegenwart als auch der Zukunft zu befassen. Dabei beschreibt sie den Dreischritt von Beschreibung, Reflexion und Verbesserung und damit die Verbindung von Lernjournalen mit der Qualitätsentwicklung. Diese Abfolge ist nicht zwingend linear. So spricht Bolton [4] davon, dass eine Autorin bzw. ein Autor als Bricoleur wirkt: Verfassende von Lernjournalen denkt sie sich als «stone-wallers, choosing bits from their thoughts and experiences, fisting them for size and shape, and creating possible constructions and models. In speculating about ideas which are neither right or wrong, writers try out experimental ideas, values, positions» [4].
So ging es in den QZ und den Lernjournalen darum, sowohl Neuland zu betreten als auch das Bisherige neu zu entdecken.
Die Lernjournale
– dienten der Selbstbeobachtung, dem «Experimentieren» und der eigenen Weiterentwicklung in der Praxis;
– machten Unbewusstes bewusst;
– führten zur Entdeckung neuer Blickwinkel und Handlungsspielräume, indem aus dem Gewohnten herausgestossen werden konnte;
– liessen die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten erkunden;
– verfeinerten die lebens- und arbeitsbezogene Wahrnehmung;
– wirkten sich nicht nur auf Ärztin oder Arzt aus, sondern auch auf Patientin und Patient;
– boten eine gemeinsame Reflexionsgrundlage im QZ.


Wissen erlebbar machen
Mit dem Kennenlernen einer Vielfalt von Modellen und Techniken wurden die QZ-Teilnehmenden in der kontinuierlichen Qualitätsentwicklung ihrer Praxistätigkeit unterstützt. Die Modelle halfen, die erlebte Praxissituation von einer anderen Seite zu betrachten und zu verstehen. Die Teilnehmenden diskutierten und vertieften die erhaltenen Inputs in den QZ-Treffen im Rahmen von Kleingruppen und im Plenum. Dabei kamen verschiedene didaktische Formate zur Anwendung, die mitunter dazu dienten, das vermittelte Wissen auch in einem erlebten, physischen Sinn zu begreifen.
Durch den Austausch wurden Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Berufsbiographien und Arbeitsformen deutlich, mit denen sich die Teilnehmenden besser kennenlernten und ihren eigenen Hintergrund kontrastierend reflektierten. Indem sich die Teilnehmenden die theoretischen Modelle gegenseitig in ihrer «Sprache» und mit praxisbezogenen Beispielen erklärten, fand ein gemeinsamer Lernprozess statt. Die teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte übernahmen auf der Grundlage der vermittelten Inputs ihre persönliche Qualitätsentwicklung eigenverantwortlich, indem sie beispielsweise im Rahmen der Lernjournale ihre Fokusse selbst festlegten und umsetzten. Die Zeit zwischen den QZ-Workshops war wichtig, weil hier mittels der Lernjournale die Selbstbeobachtungen und «Experimente» in der Praxis stattfinden konnten.
Herausforderungen
Die Evaluation brachte indes auch Spannungsfelder zutage. Zum einen spielen das gegenseitige Vertrauen und der Mut eine grosse Rolle für die individuelle Bereitschaft, Kolleginnen und Kollegen Einblick in die eigene Arbeitsweise zu gewähren [4, 5]. Dies gilt umso mehr, wenn ein QZ nicht «nur» medizinische Wissensvermittlung praktiziert, sondern sich auch mit selbst- und fremdreflexiven Elementen und persönlichen Themen befasst.
Die verfügbaren zeitlichen Ressourcen stellten eine weitere Herausforderung dar. Für die Bearbeitung der Lernjournale mussten die QZ-Teilnehmenden in ihrem Praxisalltag zusätzliche zeitliche Ressourcen bereitstellen.
Fazit
Die Evaluation zeigte, dass die QZ-Treffen und Lernjournale qualitätsbezogene Eigen- und Gruppenprozesse in Gang setzen konnten, die sich nicht nur evaluieren liessen, sondern auch von den QZ-Teilnehmenden selbst beobachtet wurden. Die Inhaltsanalyse der insgesamt 61 Lernjournale verdeutlichte zudem, dass diese der persönlichen Weiterentwicklung dienten, aber auch qualitätswirksame Verfahren, Handlungen und Überlegungen beinhalteten, die für andere Ärztinnen und Ärzte von Nutzen sein können.
Für die weitere Qualitätsarbeit stellen sich xundart in Zukunft mitunter die folgenden Fragen:
– Wie können Commitment und Mut des einzelnen Arztes, der einzelnen Ärztin zu dieser Art der Qualitätsentwicklung gefördert werden?
– Was definiert xundart dabei als auferlegte Qualitätsentwicklung, und wo liegen die Bereiche der Freiwilligkeit und intrinsischen Motivation?
– Wie können sich die Inhalte des Qualitätsmodells organischer in die «klassische» Qualitätszirkelarbeit von xundart einfügen und dadurch «Mainstream» werden?
Es wäre für die ambulante Medizin eine verpasste Chance, Ansätze wie die oben präsentierten nicht in die anerkannte Palette kontinuierlicher Qualitätsentwicklung aufzunehmen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich unsere Qualitätsansätze am gesamten Kontinuum der evidenzbasierten Medizin orientieren, die David Sackett in den 1990er Jahren formuliert hat [6] und sich nicht nur auf die einfach messbaren Teile reduziert. Dafür sind die interdisziplinäre Öffnung und die institutionalisierte professionelle Reflexivität, wie sie xundart betreibt, unabdingbar.
Das Wichtigste in Kürze
– Systemische und reflexive Qualitätsentwicklung ist ein Anliegen des Ostschweizer Ärztenetzwerks xundart. Es geht davon aus, dass ärztliche Tätigkeit eine medizinische und soziale Tätigkeit ist, dass Ärztinnen und Ärzte Mediziner und Menschen sind, dass Gesundheit biopsychosoziales Geschehen ist. In einem Qualitätszirkel(QZ)-Treffen ging es um qualitätswirksame Aspekte einer Sprechstunde.
– Durch Interaktion mit anderen entsteht Distanz zu eigenen Erfahrungen, lernt man andere Interpretationsmöglichkeiten sozialer Wirklichkeit kennen.
– Durch den Austausch mit anderen werden Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Berufsbiographien und Arbeitsformen deutlich, der eigene Hintergrund wird kontrastierend reflektiert.
– QZ-Treffen und Lernjournale setzen qualitätsbezogene Eigen- und Gruppenprozesse in Gang.
1 Projektteam:
Urs Brandenburger (Projektleitung), Bernard Hucher (Moderationsleitung), Dr. med. Michaela Signer, Dr. med. Dagmar Wemmer, Dr. med. Konrad W. Schiess
Die wissenschaftliche Begleitung, auf der dieser Artikel basiert, wurde durch xundart AG und die Versicherer Sanitas, Visana und KPT unterstützt.
Credits
Norbert Buchholz | Dreamstime.com (Symbolbild)
Korrespondenzadresse
Dr. phil. Andrea Abraham
Berner Fachhochschule Soziale Arbeit
Hallerstrasse 10
CH-3012 Bern
Tel. 031 848 46 17
andrea.abraham[at]bfh.ch
Martin Brühlmann
xundart AG
Obere Bahnhofstrasse 49
CH-9500 Wil
martin.bruehlmann[at]caremail.ch
www.xundart.ch
Literatur
1 Rantatalo O, Karp S. Collective reflection in practice: an ethnographic study of Swedish police training. Reflective Practice. 2017;17(6):708–23.
2 Ohlsson J. Team learning: Collective reflection processes in teacher teams. Journal of Workplace Learning. 2013;25:296–309.
3 Borie M, Gustafsson K, Obermeister N, Turnhout E, Bridgewater P. Institutionalising reflexivity? Transformative learning and the Intergovernmental science-policy. Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES). Environmental Science & Policy. 2020;110:71–6.
4 Bolton G. Reflective practice. Writing and professional development. Los Angeles: SAGE; 2010.
5 Abraham A, Kissling B. Qualität in der Medizin. Briefe zwischen einem Hausarzt und einer Ethnologin. Muttenz: EMH Media; 2015.
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