Interview mit Werner Bauer, ehemaliger Präsident des SIWF

«Jede Horizonterweiterung ist ein Gewinn»

FMH
Ausgabe
2021/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19702
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(1314):457-459

Affiliations
Chefredaktor SÄZ

Publiziert am 31.03.2021

Seit 2010 leitete Werner Bauer das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF und prägte damit diesen Bereich in der Schweiz massgeblich mit. Auf Anfang Jahr hat er den Stab nun an seine Nachfolgerin Monika Brodmann 
Maeder übergeben. Zeit, um auf ein bewegtes Jahrzehnt zurückzublicken.
Werner Bauer, wie fühlt es sich an, die Leitung des SIWF nach etwas mehr als zehn Jahren abgegeben zu haben?
Für mich ist das Präsidium des SIWF die schönste ­Tätigkeit, welche in der Schweizer Ärzteschaft zu vergeben ist. Die Aufgabe, bei der Weiterbildung der ­jüngeren Generation von Ärzten und der Fortbildung erfahrener Medizinerinnen mitzuwirken, war für mich über all die Jahre eine faszinierende und motivierende Herausforderung. Die gute Weiterbildung von heute ist eine Voraussetzung für die gute Qualität des Gesundheitswesens von morgen. Ich schaue mit gros­ser Freude und jetzt auch mit etwas Wehmut auf diese Zeit zurück. Aktuell befinde ich mich noch in einer Phase der Neuorientierung: Einerseits mehr Freiheiten, anderer­seits weniger Gestaltungsmöglichkeiten. Alles in allem ein nicht ganz einfacher Schritt, der aber zum Leben gehört.

Zur Person

Werner Bauer studierte in Zürich Medizin und bildete sich danach an verschiedenen Spitälern im Bereich der Inneren Medizin weiter. Der gebürtige Zürcher erwarb neben einem Facharzttitel in Innerer Medizin einen weiteren Facharzttitel im Bereich der Onkologie. Während seiner Laufbahn präsidierte Werner Bauer eine Vielzahl von Berufsorganisationen im In- und Ausland. Im Sommer 2020 verlieh ihm die Medizinische Fakultät der Universi­tät Zürich die Ehrendoktorwürde in Anerkennung seiner gros­sen Verdienste um die fachärztliche Weiterbildung und die kontinuierliche lebenslange ärztliche Fortbildung sowie deren Einbettung in die universitäre Lehre.
Was war Ihr grösster Erfolg als SIWF-Präsident?
Das SIWF wurde 2009 als verantwortliche Organi­sation für die gesetzlich reglementierte Facharzt­weiterbildung im Auftrag des Bundes gegründet. Die erste grosse Aufgabe war folglich, das SIWF als oberste ärztliche Instanz im Bereich der Fort- und Weiterbildung zu verankern. Dass uns dies gut gelungen ist, zeigt sich nicht nur ­darin, dass das SIWF vom Bund, von den Gesundheitsdirektionen, den Fakultäten und ­Ver­bänden als kompetente Institution zur Umsetzung der Weiterbildung wahrgenommen wird, sondern auch in der Akkreditierung durch den Bund in den Jahren 2011 und 2018. Diese Bescheinigung ist äus­serst wichtig, schliesslich ist das SIWF in gewissem Sinn eine ­Behörde, welche im Auftrag des Bundes alle eidge­nössischen Facharzttitel vergibt, Weiterbildungsstätten akkreditiert und Weiterbildungsprogramme genehmigt.
Ist das SIWF eine reine Kontrollinstanz?
Nein, keinesfalls. Ähnlich den angelsächsischen Colleges versteht sich das SIWF auch als die schweizerische Institution mit dem Auftrag, die ärztliche Bildung ­kontinuierlich weiterzuentwickeln und sich für deren Stellenwert einzusetzen.
Können Sie uns diesen Punkt anhand einiger Beispiele verdeutlichen?
Wir haben unter anderem im Bereich der Weiterbildung eine Projektförderung eingeführt. Alle zwei Jahre unterstützen wir die Entwicklung von Tools, E-Learning-Programmen oder innovativen Lernmethoden mit einem namhaften Betrag. Um die ärztliche Bildung zu reflektieren, zu aktualisieren und weiterzuentwickeln, führen wir zudem jährlich das MedEd-Symposium durch. Diese Veranstaltung erfreut sich grosser Beliebtheit und ist zu einer Art Flaggschiff des SIWF ­geworden, dank dem sich die Institution auch gegen aussen präsentieren kann.
Sie haben sich zudem persönlich für Workshops eingesetzt …
Mir war schon kurz nach der Amtsübernahme bewusst, dass wir den jungen Ober- und Kaderärztinnen und -ärzten, welche im Weiterbildungsbereich Verantwortung übernehmen, fachliche Unterstützung anbieten sollten. So fragte ich 2012 das Royal College of Physicians of London an, ob wir nicht auch in der Schweiz zusammen Teach the Teacher Workshops organisieren könnten. Das Joint Venture kam zustande, und seither führen wir zweimal jährlich eine Workshop-Serie durch. Obwohl diese Veranstaltungen in englischer Sprache abgehalten werden, waren sie von Beginn weg sehr beliebt. Auf dem Programm stehen wechselnde Themen – vom Lehren am Krankenbett, über das Feedback-Geben bis hin zum Umgang mit Assistenzärztinnen und -ärzten, welche die Erwartungen nicht erfüllen. Seit letztem Jahr können wir die Kurse mit einem Team von Schweizer Instruktorinnen und Instruk­to­ren, das wir aufgebaut haben, nun auch in deutscher Sprache anbieten, hoffentlich bald auch auf Franzö­sisch
Gibt es Ziele, die Sie während Ihrer Amtszeit nicht erreichen konnten?
Ich bin mit dem Stellenwert der ärztlichen Weiter­bildung noch nicht zufrieden. Zwar engagieren sich die Leiterinnen und Leiter und auch ihre Mitarbeitenden an den meisten Weiterbildungsstätten sehr, um den jungen Facharztanwärterinnen und -anwärtern alle notwendigen Kompetenzen zu vermitteln. Von zu vielen Kadern und auch Spitaldirektionen wird aber die Weiterbildung doch eher als mühsame Pflicht empfunden, für die zu wenig Zeit und Geld da ist. Man kann da immer etwa wieder eine Art «Weiterbildungsverdruss» spüren. Das führt zur grundsätzlichen Frage: Sind ­Assistenzärztinnen und -ärzte primär Lernende oder Arbeitnehmende? Wenn man bloss den Stellenwert der Lehre gegen denjenigen der ärztlichen Dienstleistung abwägt, überwiegt in der Politik, bei den Behörden und Spitaldirektionen immer wieder die Meinung, die jungen Ärztinnen und Ärzte sollen ihre Arbeit machen und sich on the job auch noch das nötige Wissen über die Zeit aneignen. Bei solchen Diskussionen kam ich mir häufig etwas ohnmächtig vor. Bei der Weiterbildung geht es schliesslich nicht nur um die Vermittlung von Wissen und handwerklichem Können. Im angelsächsischen Raum spricht man von drei Kompetenz­bereichen, die einer Ärztin, einem Arzt während der Weiterbildung vermittelt werden sollten: knowledge, skills and attitude. Dies spiegelt sich auch in der sich abzeichnenden Integration der Entrustable Professional Activities (EPAs) in die Weiterbildung wider. Mit EPAs lassen sich die Fortschritte im Erwerben von Kompetenzen der Weiterzubildenden individuell evaluieren. Das Ziel ist, dass die Ärztinnen und Ärzte am Ende ­ihrer Weiterbildung über das erforderliche Kompetenzset verfügen, damit man ihnen die eigenverantwortliche Betreuung von Patientinnen und Patienten anvertrauen kann.
Wir haben nun viel über die Weiterbildung ­gesprochen. Welche Herausforderungen gibt es im Bereich der Fortbildung?
Die Devise «trust me, I’m a doctor» hat ausgedient. Das berufliche Umfeld verändert sich heutzutage zu rasch, um die eigene Tätigkeit nicht konstant nach den neusten Entwicklungen und Empfehlungen auszurichten. Deshalb braucht es im Fortbildungsbereich eine entsprechende Dynamik. Wir haben eine Initiative gestartet, bei der die Fachgesellschaften ihren Mitgliedern künftig explizit Themenbereiche empfehlen, welche sie mittelfristig über qualitativ hochstehende Fortbildungsangebote abdecken sollten.
Um sich Kompetenzen in neuen Bereichen anzueignen und sich auch innerhalb eines Fachgebietes um­orientieren zu können, sollte meines Erachtens auch im Fortbildungsbereich über die Implementierung von EPAs nachgedacht werden. Parallel dazu wären Self-­Assessments nützlich, dank denen die Ärztinnen und Ärzte selbst feststellen könnten, in welchen Bereichen ein individueller Fortbildungsbedarf besteht. Die europäischen Handchirurgen verwenden bereits ein solches System.
Braucht es folglich strengere Rahmenbedingungen im Fortbildungsbereich?
Persönlich ziehe ich eine freiheitliche Lösung vor. Die Fortbildung soll entsprechend den individuellen Bedürfnissen in Selbstverantwortung gestaltet werden können. Aber das SIWF hat auch den Auftrag, sicher­zustellen, dass die Ärztinnen und Ärzte ihrer Pflicht zur kontinuierlichen Fortbildung während ihrer gesamten Karriere tatsächlich nachkommen und sie ­dokumentieren. Kontroll- und Sanktionsinstanz sind aber die kantonalen Gesundheitsbehörden.
Welche sind die grössten Herausforderungen auf dem Gebiet der Weiter- und Fortbildung in den nächsten fünf Jahren?
Die Medizin und ihr Umfeld entwickeln sich rasant. Dies bedingt eine kontinuierliche Anpassung der ärztlichen Bildung auf allen Ebenen. Ob dies nun wie zum Beispiel im Bereich der Kardiologie über die Implementierung von EPAs für die gesamte Weiterbildung oder die Einführung von Simulatoren in der Chirurgie angegangen wird, muss jede Fachrichtung für sich evaluieren. Auch die Verschiebung operativer Eingriffe von stationär zu ambulant stellt eine grosse Heraus­forderung dar. Stationär hatte man eher Zeit, etwas zu erklären. Bei ambulanten Eingriffen erfolgt die Be­zahlung nach TARMED-Tarifen und da ist keine Weiterbildung eingeplant. Deshalb braucht es möglichst bald eine schweizweite Lösung. Dies sind jedoch nur zwei von vielen Herausforderungen der Zukunft. Deshalb bleibt es für das SIWF die grosse, übergeordnete Aufgabe, sich dauernd für den Stellenwert der Weiter­bildung einzusetzen und diese zusammen mit der Fortbildung kontinuierlich den sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen.
Haben die Weiterzubildenden die Möglichkeit, ihre Weiterbildungsstätte zu bewerten?
Ein wichtiges Mittel stellt dafür die jährlich von der ETH bei den Assistenzärztinnen und -ärzten durch­geführte Umfrage zur Beurteilung ihrer Weiterbildungsstätte dar. Schneidet eine Institution zwei Mal bei dieser Umfrage schlecht ab, sind wir verpflichtet, den Gründen nachzugehen; falls nötig über eine ­Visitation. Die Visitationen sind überhaupt ein ­wirkungsvolles Instrument zur Sicherstellung der ­Qualität der Weiterbildung, weshalb wir sie auch stetig ausbauen. Gelegentlich kommt es auch vor, dass sich Assistenzärztinnen und -ärzte beim SIWF melden, um Unstimmigkeiten an ihrer Weiterbildungsstätte zu melden. Ich nahm solche Anfragen immer ernst und versuchte allfällige Konflikte vermittelnd zu lösen oder die Be­hebung von Mängeln zu unterstützen.
Mit Monika Brodmann Maeder übernimmt nun zum ersten Mal eine Frau das Präsidium des SIWF. Wie schätzen Sie die Signalwirkung dieser Wahl ein?
Ich freue mich sehr über diese gute Entscheidung. Einerseits wurde damit eine Person gewählt, die über einen breiten Erfahrungsschatz und eine fundierte Ausbildung im Bereich der interprofessionellen Weiterbildung verfügt. Andererseits ist auch die Signalwirkung wichtig, die von der Wahl einer Frau in diese Führungsposition ausgeht. Der Frauenanteil in der Medizin steigt stetig an, und es ist unabdingbar, dass Frauen dieselben Möglichkeiten erhalten, eine ärztliche Karriere zu verfolgen, und motiviert werden, diese Möglichkeiten auch auszuschöpfen.
Was sind Ihre persönlichen Pläne für die nächsten Monate? Bleiben Sie im Bereich der Weiterbildung tätig?
Ich werde das SIWF gerne noch bei einzelnen Projekten unterstützen, solange dies gewünscht wird. Aber ich werde bestimmt kein Schattenpräsident. Nun habe ich endlich Zeit, mich meinem seit langem aufgescho­benen Buchprojekt zu widmen. Zudem bleibe ich als Redaktionsmitglied der Schweizerischen Ärztezeitung zumindest thematisch mit der schweizerischen Gesundheits- und Standespolitik verbunden.
Eines Ihrer Markenzeichen war, dass Sie Ihre Referate gerne mit Zitaten von Sir William Osler anreicherten. Gibt es ein Zitat, das zu diesem Rückblick passt?
Da kommt mir spontan folgendes Zitat in den Sinn: «Physicians need culture.» William Osler verlangte von seinen Assistenzärzten, dass sie jeden Tag während mindestens einer halben Stunde Texte aus der Welt­literatur lesen. Fachwissen und handwerkliches Geschick allein machen noch niemanden zu einer wirklich guten Ärztin, einem wirklich guten Arzt. Jede Horizonterweiterung ist ein Gewinn, sei es im Bereich der Ethik, der Kommunikation, der Rechtsgrundlagen oder eben der Literatur.
werner.bauer[at]hin.ch