Interview mit Sophie Pautex, Palliativmedizinerin, Genf

«Wir werden stärker wahrgenommen als vor Corona»

Horizonte
Ausgabe
2021/26
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19912
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(26):896-898

Affiliations
Texterin

Publiziert am 29.06.2021

In dieser Serie werden Medizinerinnen und Mediziner ­vorgestellt, die ausser­gewöhnliche Berufsrichtungen eingeschlagen haben. Im ­aktuellen Beitrag gibt ­Sophie Pautex Auskunft über ihr Wirken als Leiterin des Service de médecine ­palliative an den Hôpitaux universitaires de Genève (HUG).

Zur Person

Name:
Prof. Dr. Dr. med. Sophie Pautex
Alter: 54
Als Palliativmedizinerin tätig seit:
1999
Arbeitsort:
Hôpitaux universitaires de Genève
Ausbildung:
Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und Schwerpunkte Geriatrie sowie Palliativmedizin
Was ist für Sie als Palliativmedizinerin ein guter Tod?
Wenn jemand so stirbt, wie er oder sie sich das gewünscht hat. Das ist vielleicht nicht immer so, wie wir Pflegenden das möchten, aber das müssen wir akzeptieren. Es gibt Menschen, die Schmerzen in Kauf nehmen, um bis zum Schluss mit ihren Angehörigen sprechen zu können. Oder auch solche, die allein zu Hause sterben möchten.
Hätten Sie als Studentin je gedacht, dass Sie 
in der Palliative Care arbeiten würden?
Nein, nie. Wir studieren ja Medizin, damit wir Kranken helfen können, gesund zu werden – an der Universität denkt man nicht daran, dass man auch sterbende Pa­tienten betreuen wird. Ich hatte gute Voraussetzungen für die Palliativmedizin, weil mich interdisziplinäre Arbeit interessiert und ich mich immer gerne um ältere Patientinnen und Patienten gekümmert habe. Nach ­einigen Monaten Erfahrung in der Palliativmedizin ergriff ich 1999 die Gelegenheit, in den neu gegründeten mobilen Teams der Palliative Care mitzuarbeiten, die auch in den anderen Abteilungen der HUG, in den ­Altersheimen und bei den Patienten zu Hause beraten und pflegen – und bin dabei geblieben.
Was motiviert Sie für Ihre tägliche Aufgaben?
Dass wir so viel für die Lebensqualität der Patientinnen tun können, ganz anders als noch vor zwanzig Jahren. Damals gab es viel weniger Schmerztherapie und Medikamente – heute gehört das Schmerzassessment dazu, genauso wie das kontinuierliche Gespräch mit den Patienten: Wir möchten wissen, was ihnen wichtig ist, was für sie Lebensqualität bedeutet, und können so meistens gemeinsam zu Entscheidungen kommen. Ferner macht mir das Unterrichten der jungen Kolleginnen und Kollegen grosse Freude.
Was hat sich in den letzten zwanzig Jahren 
in der Palliative Care Wesentliches verändert?
Mit dem medizinischen Fortschritt ist auch der Wunsch der Patientinnen und Patienten gewachsen, die therapeutischen Mittel möglichst auszuschöpfen. Vor zwanzig Jahren sagten die Fachärzte irgendwann, dass sie nicht mehr tun könnten, worauf die Palliativmedizin zum Einsatz kam. Heute gibt es immer noch etwas Neues, das man probieren kann, beispielsweise die ­Immuntherapie in der Onkologie. Deshalb arbeiten wir auch stärker fachübergreifend zusammen. Im ­Idealfall sehen wir die Patientinnen schon sehr früh ein erstes Mal, beispielsweise, um die Patientenver­fügung zu besprechen, und dann vielleicht Wochen oder Monate nicht mehr. Des Weiteren ist heute auch die Forschung viel wichtiger als zu meinen Anfängen in der Palliativmedizin.
Sophie Pautex unterwegs in der Abteilung für Palliativ­medizin an den Hôpitaux universitaires de Genève.
Bitte erklären Sie.
Die Palliative Care will heute evidenzbasiert zeigen können, dass wir keine medizinische Massnahme durchführen, weil wir es immer so gemacht haben, sondern weil es den Patientinnen und Patienten hilft. Deshalb versuche ich, Forschungsprojekte voranzutreiben und zu unterstützen, auch im Rahmen meines Engagements für die Fachgesellschaft palliative.ch. Eine besondere Eigenschaft der Palliative Care ist ihre Interdisziplinarität. Dies muss die Forschung ebenfalls berücksichtigen: Wir betreuen ja nicht nur ältere Menschen, sondern haben auch jüngere Patientinnen und Patienten. Diese haben auch andere Diagnosen als Krebs, wie er bei älteren Menschen häufig ist, beispielsweise kardiologische oder pneumologische.
Wie erleben Sie die interdisziplinäre Zusammen­arbeit?
Generell gut und immer besser. Wir arbeiten mit fast allen anderen Disziplinen zusammen. Gerade die jungen Ärztinnen und Ärzte kennen die Palliative Care durch ihre Ausbildung und wissen, dass wir sie beraten und unterstützen können. Doch es gibt auch Kollegen, oft ältere, die das nicht wünschen. Ihnen fällt es schwer, sich mit Palliative Care auseinanderzusetzen und sie als Option für ihre Patientinnen und Patienten in Betracht zu ziehen. Aber wenn Sie doch einmal eine gute Erfahrung mit uns machen, geht es das nächste Mal schon besser.
Wie kann ich mir Ihren typischen Arbeitstag als Leiterin des Service de médecine palliative an den HUG vorstellen?
(lacht) Es gibt keinen typischen Arbeitstag für mich, ich tue jeden Tag hundert Dinge! Ich versuche, die Pa­tienten zweimal pro Woche zu sehen und mindestens einmal pro Woche für die Kolleginnen da zu sein und zu hören, was die aktuellen Fragen sind. Da unsere 36 Betten auf zwei Abteilungen stehen und wir auch vier mobile Teams haben, ist dies gar nicht so einfach. Dann gibt es natürlich Weiter- und Fortbildungen ­sowie wöchentlich zwei bis sechs Stunden Lehre für die Medizinstudierenden. Neben der Forschung bin ich ­zudem im Kanton Genf aktiv, um die Palliative Care auch ausserhalb des Spitals besser zu etablieren. ­Besonders die Pflegeorganisationen oder bei den ­Grundversorgenden, aber auch in der Bevölkerung, zum Beispiel am Palliative Care Day, der dieses Jahr am 10. Oktober stattfindet.
Warum ist dies wichtig?
Wir brauchen, zumindest im Kanton Genf, keine weiteren Palliativbetten und nicht nur spezialisierte Palliative Care. Was wir für die sechs- bis siebentausend Menschen brauchen, die hier jährlich palliativmedizinische Betreuung benötigen, sind Pflegende sowie Ärztinnen und Ärzte aller Disziplinen, die grundlegende Kompetenzen in Palliative Care besitzen. Dies wird die Art und Weise, wie wir uns in der Praxis und im Spital um unsere Patienten kümmern, stark verändern: Wir werden früher wissen, wer Palliative Care benötigt, die Bedürfnisse der Kranken besser klären können und so imstande sein, die bestmögliche Betreuung gemeinsam mit allen Beteiligten zu planen.
Sind Sie häufig mit Sterbebegleitung konfrontiert?
Tatsächlich sind viele Patientinnen und Patienten Mitglied einer Sterbehilfeorganisation. Viele nehmen die Möglichkeit als beruhigend wahr, aus dem Leben scheiden zu können, wenn sie ihr Leben nicht mehr als lebenswert empfinden. Bis zum Suizid gehen aber nur wenige, ungefähr drei bis vier Prozent der ­Patientinnen und Patienten. Das könnte daran liegen, dass Palliative Care viele krankheitsbedingte Leiden stark lindern kann.
Wie gehen Sie mit den schwierigen Seiten 
Ihres Berufes um?
Wenn ich Patienten in meinem Alter sehe, ist das noch heute schwierig für mich. Ich sage mir dann, dass ich das selbst sein könnte, die in diesem Bett liegt und vielleicht noch sechs Monate zu leben hat. Deswegen versuche ich, das Leben bewusst zu geniessen. Es ist oft auch hart mitanzusehen, wie furchtbar müde und überfordert die Angehörigen sind. Wir tun natürlich unser Bestes, um sie in der Pflege zu entlasten, wir versuchen immer, einen Weg zu finden, der allen Betroffenen hilft. Manchmal können wir etwa schwer kranke Patientinnen und Patienten zwar stationär betreuen, sie aber doch ab und zu einen Tag zu Hause verbringen lassen. Gerade in schwierigen Situationen ist das Team sehr wichtig, um sich auszutauschen, einander zuzuhören, vielleicht auch die Bestätigung zu erhalten, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Wie hat Corona Ihre Arbeit verändert?
Sehr stark. Ich musste mir unter katastrophenmedizinischer Perspektive das erste Mal in 30 Berufsjahren die Frage stellen, was das Minimum an palliativer Pflege ist. Dadurch haben wir die Palliative Care ganz anders denken gelernt. Natürlich haben wir unheimlich viel und mit sehr vielen Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet und gemeinsam Patienten und Angehörige betreut: stationär und in den mobilen Teams, auf der Intensivstation, auf dem Notfall, in der Geriatrie … Trotz der Unberechenbarkeit dieser Krankheit – wir konnten kaum vorhersehen, wer sterben oder wer sich erholen würde – war dieser riesige ­Einsatz eine gute Erfahrung: Wir wurden enorm gebraucht und werden dadurch stärker wahrgenommen als vor Corona, im Berufsalltag wie auch politisch. Seit November 2020 vertrete ich die Palliative Care nun auch in der nationalen Covid-19 Science Task Force. ­Insofern war und ist die Pandemie auch eine Chance für unser Fach.

Palliative Care

Die Palliative Care umfasst die Betreuung und die Behandlung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und/oder chronisch fortschreitenden Krankheiten. Sie wird vorausschauend miteinbezogen, ihr Schwerpunkt liegt aber in der Zeit, in der Heilung als nicht mehr möglich erachtet wird und kein therapeutisches Ziel mehr ist. Die Palliative Care will Patientinnen und Patienten eine optimale Lebensqualität bis zum Tode ermöglichen und ihre Angehörigen angemessen unterstützen. Sie antizipiert und lindert Symptome, Leiden und Komplikationen und schliesst medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung mit ein. Die Palliative Care erfolgt, soweit dies möglich ist, an einem vom kranken oder sterbenden Menschen gewünschten Ort. Vernetzte Versorgungsstrukturen ermöglichen eine kontinuierliche Behandlung und Betreuung.
Weitere Informationen: www.palliative.ch
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