Ethische Fragen im medizinischen Alltag

Müssen wir in der medizinischen Praxis stets die Neutralität wahren?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19943
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(2930):976

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 20.07.2021

In unserer Ausbildung (die in meinem Fall bereits ein halbes Jahrhundert zurückliegt) haben wir gelernt, dass das Verhältnis der Ärztinnen und Ärzte zu ihren Patientinnen und Patienten grundsätzlich von – wohlwollender – Neu­tralität und einer gewissen Distanz bestimmt sein soll.
Ich möchte hier nicht die generelle Gültigkeit dieser Regel in Abrede stellen. Vielmehr möchte ich Situationen beschreiben, in denen es um Gesundheit im weiteren Sinne (körperlich, psychisch, sozial) geht und sich die Frage stellt, ob es indiziert ist, diese Neutralität vor­übergehend aufzugeben.
Diese Frage hat sich mir beispielsweise bei der Aufsicht der Methadonbehandlung von Drogenabhängigen gestellt. Als Kantonsarzt habe ich Bewilligungen aus­gestellt. Vielleicht bin ich damals, um das Jahr 1980 ­herum, zu streng vorgegangen. Ich musste einsehen, dass die Kolleginnen und Kollegen, die sich für diese Kranken einsetzten und dabei ihre Neutralität aufzugeben schienen, häufig recht hatten. Wie so viele andere benachteiligte Menschen werden Suchtkranke von neutral eingestellten ­Ärztinnen und Ärzten oft «sich selbst überlassen».
Ich habe auch erkannt, dass sich die Ärzteschaft für kürzlich angekommene Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende und Geflüchtete einsetzen muss. Wenn die Behörden von diesen Menschen Beweise verlangt, dass sie verfolgt, misshandelt oder gefoltert wurden, sie diese aber nicht vorlegen können – haben Ärztinnen und Ärzte, die im Innersten davon überzeugt sind, dass die Person die Wahrheit sagt, dann nicht die ­moralische Pflicht, dies zum Ausdruck zu bringen? Ein solches Zeugnis scheint auch in Situationen gerechtfertigt, in denen eine Ärztin, ein Arzt Mobbing am Arbeits­platz oder eine Belästigung feststellt, dies von der Gegenseite aber vehement abgestritten wird.
Nun lässt sich argumentieren, dass man sich hier auf dünnem Eis bewegt. Sinn und Zweck der ärztlichen Tätigkeit ist es jedoch, dem Hilfesuchenden zur Seite zu stehen. Wenn man sich einer Sache sicher ist, kann und sollte man sich entsprechend einsetzen, auch wenn dies zulasten der Neutralität geht. Es kann nicht darum gehen zu lügen. In entsprechenden Diskussionen im Kollegenkreis habe ich oft klargestellt, dass ich davon abrate.
Nachdem ich nun unsere Neutralität in Fragen der persönlichen Gesundheit hinterfragt habe – wie steht es ­eigentlich um die öffentliche Gesundheit? Auf gesellschaftlicher Ebene können wir angesichts der Entwicklungen, die unser aller Gesundheit ernsthaft bedrohen, noch weniger neutral bleiben. Im Laufe der Jahre ist das Ausmass der Verschmutzung – insbesondere durch die Industrie – deutlich geworden. In direktem Zusammenhang mit unserer Tätigkeit stehen beispielsweise die Auswirkungen des Pestizideinsatzes auf die Gesundheit. In diesen Fragen ist der Verein Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz aktiv; dar­über hinaus kann man sich individuell engagieren.
Ein weiteres aktuelles Thema: die Bewusstseinsbildung für und der Kampf gegen den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt. Viele Ärzte und Ärztinnen sind entsprechenden aktiv – manche gehen zum ersten Mal auf die Strasse zum Demonstrieren! Wenn man weiss, dass klimabedingte Erkrankungen und Todesfälle die Zahl der Covid-19-Opfer bei Weitem übersteigen werden, dann ist es gerechtfertigt, für die Zukunft der eigenen Patienten ebenso wie für die unseres Planeten eine dogmatische Neutralität aufzugeben. Im Gegensatz zu Covid-19 scheinen die Klimaschäden langsamer einzutreten, was aber nicht stimmt.
Die Angehörigen des Gesundheitswesens sollten diese Entwicklungen nicht – aus Neutralitätsgründen – von der Seitenlinie aus beobachten. Das Leben zeigt, dass eine solche Haltung zu kurz greift und zu einfach ist, wenn es um – aktuell oder potenziell – gefährdete Gruppen geht, denen es schwerfällt, ihre Rechte und Interessen zu verteidigen. Für den Neuenburger Psychiater Marco Van­notti ist «Empathie einer der wichtigsten Aspekte des postmodernen Arztberufs».
Der grosse Virchow wiederum sagte: «Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Grossen.» Dies beschreibt die Aufgabe des Gesundheitswesens und seine Rolle als Garant und Förderer der öffentlichen Gesundheit sehr treffend. Es gilt aber mutatis mutandis auch für die Ärzteschaft und das Pflegepersonal am Krankenbett jeder einzelnen Patientin, jedes einzelnen Patienten.
jean.martin[at]saez.ch