Innovation?

FMH
Ausgabe
2021/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20107
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(34):1075

Affiliations
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortlicher Public Health und Gesundheitsberufe

Publiziert am 25.08.2021

Alles entwickelt sich weiter, alles fliesst. In der aktuellen Ausgabe der SÄZ findet sich ein sehr lesenswerter Artikel zu neuen Produkten, die eine Nikotinabhän­gigkeit bei Minderjährigen fördern. Heute kann man Nikotin in höheren Dosen unauffälliger einnehmen als früher. Von welchem Produkt die minderjährigen Konsumentinnen und Konsumenten dann schlussendlich nachhaltig und langfristig abhängig bleiben, ist offen. Ein relevanter Anteil von ihnen wird schliesslich täglich Zigaretten rauchen – wie Daten aus dem Ausland zeigen. Die ZHAW hat berechnet, dass das Rauchen in der Schweiz jährlich Gesundheitskosten in Milliarden­höhe verursacht. Zusätzlich werden durch in der Schweiz ansässige ausländische Tabakunternehmen massive Gesundheits- und Umweltkosten im Ausland verursacht.
Der Grund dafür, dass diese Unternehmen ihren Sitz in der Schweiz haben, ist die äusserst liberale Gesetzgebung. Von unserer Profession her sind wir sozial und zugleich als Angehörige eines freien Berufs liberal ­orientiert. Es gehört aber nicht zu unserem liberalen Verständnis, dass Unternehmen den Weg von Minderjährigen in die Sucht, in die Nikotinabhängigkeit und Unfreiheit bewusst fördern können. Davor müsste ein griffiger Jugendschutz Minderjährige bewahren. Der aktuelle Stand des Gesetzesentwurfs des Tabakproduktegesetzes tut dies nicht. Der Ständerat ist leider nicht seiner Gesundheitskommission gefolgt. So ist denn die Schweiz betreffend Tabakproduktegesetz­gebung einsames Schlusslicht in Europa. In ganz ­anderer Weise wird sonst im Gesundheitsbereich ­über­reguliert. Es besteht keine Kostenexplosion. Das Kostenwachstum liesse sich bereits mit einem moderaten ­Tabakproduktegesetz, das sich an europäischen Standards orientiert, nachhaltig und signifikant verringern: Es birgt ein Sparpotenzial von einer Milliarde Franken pro Jahr. An der diesjährigen Gesundheits­tagung auf dem Stoos wurde von Schweizer Gesundheitsökonomen aufgezeigt, dass wir aktuell in der Schweiz allenfalls ein Problem mit der Verteilung der Kostenlast im Gesundheitswesen haben, nicht aber mit den Gesundheitskosten an sich. Das Nichterkennen unechter Quoten sei der Grund für die massive Fehleinschätzung durch die Gesundheitspolitik. Gerade im Gesundheitswesen brauchen wir Handlungsspielraum, um auf die individuellen Probleme und Krankheiten reagieren zu können, die vor einem biopsychosozialen Hintergrund in unterschiedlichsten Kombinationen in der Sprechstunde von Patientinnen und Patienten vorgebracht werden.
Nehmen wir den Strassenverkehr als Grundlage für eine vereinfachte Metapher. Das aktuelle Tabakproduktegesetz ist so gestaltet, wie wenn das Autofahren frei bei Minderjährigen beworben würde, sie zudem relativ mühelos an Fahrzeugschlüssel und Fahrzeuge gelangen würden, ohne ausreichende Fahrschulung. In der Folge kommt es zu mehr Fahrzeugunfällen mit Per­sonen- und Sachschaden. Für die Behebung dieser Perso­nen- und Sachschäden ist die Reparaturwerkstatt «Gesundheitswesen» zuständig. Leider haben sich auch in der Reparaturwerkstatt die Verhältnisse geändert. Als Kunde kann ich nur noch den kleineren Ga­ragen vertrauen. In den grossen geht es nicht mehr um die Indikationsqualität – die Werkstattchefs haben nicht mehr viel zu sagen –, sondern in erster Linie um das betriebswirtschaftliche Ergebnis. Dieses von der Politik geförderte Verhalten und die betriebswirtschaftliche Orientierung, ebenfalls politisch gefördert, führen zu mehr Kosten. Dies erschreckt wiederum die Politik. Deren Lösung: Deckel drauf. Es wird zwei Jahre im Voraus festgelegt, was es kosten darf. Die Reparaturwerkstatt kann somit nur noch drei statt alle vier Winterräder wechseln und das Licht dann erst im nächsten Jahr reparieren, wenn wieder etwas Geld da ist. Der Lenker bleibt ebenfalls länger arbeits- und fahrun­fähig, da er aus Kostengründen erst im folgenden Jahr behandelt werden kann. Treffend hat eine Kollegin in der letzten Ausgabe der Synapse formuliert: Wenn das Essen im Topf überkocht, gibt es nur eins: Topf vom Feuer und Deckel weg. Die Ursachen des Feuers sind zu analysieren. Deckel drauf nützt nichts. Nachzulesen in der Synapse [1]. Der Strassenverkehr ist glücklicherweise anders geregelt, insbesondere im Bereich Neulenker.