Es ist an der Zeit, das Allgemeinwohl neu zu denken, auch über unsere Grenzen hinaus

Hat «Gesellschaft» Zukunft?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20110
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(39):1284

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 28.09.2021

Covid-19 ist kein Albtraum, der am Ende der Nacht einfach verpufft (und es werden noch andere Viren kommen). Dr. Tedros, der Generaldirektor der WHO, fordert die wohlhabenden Länder auf, mehr dafür zu tun, dass arme Menschen geimpft werden können, denn «niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind». Aber bis zur erklärten Absicht der G7, eine Milliarde Impfdosen bereitzustellen, hat keines der westlichen Länder auch nur daran gedacht, die Impfung von Bevölkerungsgruppen mit geringem Infektionsrisiko im ­eigenen Land zurück­zustellen, damit der hohe Bedarf in anderen Teilen der Welt gedeckt werden kann.
Die USA und Frankreich werben bereits für eine dritte Impfung für gefährdete Personen, und auch in der Schweiz gibt es solche Überlegungen. Dr. Tedros spricht hier von kritikwürdigem Egoismus. Eine grosse Deutschschweizer Zeitung hingegen wirft all jenen, die (wie ich) diese Meinung teilen, vor, sie würden weltfremd und naiv die «Moralkeule» schwingen. Schliesslich seien Regierungen dafür gewählt, den Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu dienen. Punkt. 
Vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforde­rungen greift dies zu kurz. Die stetig wachsende Ungleichheit innerhalb und zwischen den Nationen stellt, neben dem Klima und mehr als Covid-19, das bedeutendste Problem unserer Zeit dar. Zeigen doch insbesondere die bemerkenswerten Arbeiten von Julia Steinberger von der Universität Lausanne, dass Gesellschaften umso besser Herausforderungen im Gesundheits- und Umweltbereich begegnen können, je gerechter sie sind. Angesichts globaler Probleme kommt es darauf an, sämtliche Länder stärker zu wappnen und somit Ungleichheiten abzubauen.
Beim Kampf gegen die Pandemie bleibt auch unser Land nicht von libertären Meinungsbekundungen verschont. Tausende Menschen protestieren gegen die Schutzmassnahmen. Natürlich sollten wir eine Zuspitzung der Debatte vermeiden; andererseits darf ein Land wie das unsere mit seiner demokratischen Kultur nicht vergessen, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit der anderen beginnt. Die Gouverneure von Florida und Texas haben in ihren Bundesstaaten die Infektions- und Todeszahlen in die Höhe getrieben, weil sie entgegen den Wünschen von Unternehmen und Schulen die örtliche Auferlegung einer Maskenpflicht untersagten – ein groteskes Beispiel für Starrsinn, der auf parteipolitischen Überlegungen fusst. Auf der brit­ischen Website theconversation.com [1] wurde gefragt: «Sollten wir die Geschichten von Impfskeptikern erzählen, die an Covid gestorben sind?»
Zum Glück für alle, denen die körperliche, psychische und soziale Gesundheit der Gemeinschaft und ein ­sozialethisches Fundament am Herzen liegen, wird immer wieder an die Solidarität der Menschen appelliert. Ein Beispiel dafür ist die treffende Frage des Genfer Professors Didier Pittet in La Matinale vom 27. Juli: «Hat ‘Gesellschaft’ Zukunft?»
Seit mehr als einem halben Jahrhundert geniessen wir in puncto Wirtschaft, Gesundheit und Lebensstil Möglichkeiten, von denen unsere Vorfahren nur träumen konnten. Doch ist klar, dass die «Party» so nicht weitergehen kann. Wir sind zu weit gegangen bei der Zerstörung der Umwelt, der «Verkünstlichung» unserer Lebensweise ­und der Uniformierung von Techniken und Handlungsweisen. All dies schwächt unsere Widerstandskraft.
Das Klima ist Dauerthema in den Nachrichten. Die satirische Zeitung Le Canard enchaîné schrieb am 11. August: «Der neue Bericht des Welt­klimarats IPCC weist einen ganz anderen Tenor auf [als die Arbeiten der Klimakonferenz in Paris 2015]. Er macht jegliche Hoffnung, die Klimaerwärmung im Schneckentempo eindämmen zu können, zunichte.» Was soll man da erst in der Schweiz sagen, wo die Regierung nichts anderes als das Schneckentempo, oder vielleicht den Krebsgang, kennt? William Nordhaus, Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2018, erklärt (laut Time vom 26. April): «Unsere politischen Prozesse sind nicht in der Lage, diese schädlichen Auswirkungen (Luftverschmutzung, Giftmüll, Treibhausgase) zu verhindern, da sie die Externalitäten nicht berücksichtigen.» Es nützt auch nichts, ständig zu wiederholen, dass das Zeitmass der Politik ein anderes ist als das der wissenschaftlichen Fakten.
Ob auf lokaler, nationaler oder globaler Ebene: Wir leben in einer Gemeinschaft, die auch eine Lebensgemeinschaft, eine Gemeinschaft der Perspektiven sein muss. Gesellschaft, das bedeutet, Grenzen zu akzeptieren. Das bedeutet, dass «Opfer bringen» nicht als Tabu gilt. Denn das Allgemeinwohl existiert, auch wenn Margaret Thatcher meinte: «There is no such thing as society» («So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht»). Werden wir es schaffen, endlich zu glauben, was die Wissenschaft längst weiss? Und danach zu handeln?