«Altwerden ist nichts für Feiglinge»

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20346
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(49):1684

Affiliations
Prof. Dr. theol., Mitglied der Redaktion Ethik

Publiziert am 07.12.2021

Das Zitat im Titel wird vielen zugeschrieben, der deutsche Entertainer Blacky Fuchsberger hat seine Autobiographie so betitelt, der Fussballer Uwe Seeler soll es gesagt haben und ebenso die amerikanische Schauspielerin Bette Davis. Ich kenne es jedenfalls von meiner Schwiegermutter – und sie meint es weder augenzwinkernd noch kokett. Sondern bitterernst.
Unsere Eltern werden alt. Im besten Falle – denn das heisst ja, dass sie nicht jung gestorben sind! Aber damit einher geht die Kehrseite, dass Altwerden anstrengend ist und eine Herausforderung für alle Beteiligten. ­Körperliche Gebresten gehen einher mit Vergesslichkeiten, und rundherum wird die Welt kleiner. Alles tut weh beim Aufstehen. Und eigentlich auch noch beim Zubettgehen. Freundinnen und Freunde werden we­niger, die Familie ist noch da. Wohl denjenigen, die Freundschaft in der Familie finden. Man schaut bei den Todesanzeigen zuerst aufs Geburtsdatum und erschrickt. Aber es ist nicht eigentlich der Tod, der schreckt. Sondern die Zeit vorher. Das Altwerden.
Das sind nicht die Seniorinnen und Senioren, nicht die Golden-Agers mit den freien Terminkalendern und dem finanziellen Sorglos-Polster. Das waren sie vielleicht einmal. Aber jetzt sind sie nur noch alt. Und kämpfen sich durch den Tag. Wenn sie Glück haben, sind sie noch zu zweit. Wenn sie noch mehr Glück ­haben, dann haben sie es auch gut miteinander. Und mit den Kindern, den Enkeln, den Urenkeln. Die alle ihr eigenes Leben führen. Manchmal kommen sie vorbei. Das ist ein Highlight. Die Welt kommt ins Haus, in die Wohnung. Bringt Lachen mit, Leben, Erzählungen. Und geht wieder. Wann zum nächsten Mal?
Bis dann sind sie alleine, im eigenen Körper, mit den eigenen Gedanken, Erinnerungen, Ängsten. Warten. Und sich dabei durch den nächsten Tag kämpfen. Nichts für Feiglinge.
Es gibt natürlich auch die andern, die bis ins hohe Alter noch fit sind und unternehmungslustig! Aber um die geht es mir hier nicht. Sondern um die Alten und ­Müden, die nicht mehr mögen. Und es auch realisieren, dass sie nicht mehr mögen.
Da sollte man noch den Mut aufbringen, kein Feigling zu sein? Was hiesse das denn, in diesem Zusammenhang mutig zu sein? Für die Sterbehilfeorganisation Exit bedeutet es, dass sich die Generation, die ein ­Leben lang gewohnt war, selbstbestimmt zu leben, «nicht vorschreiben lassen (muss), wie sie zu sterben hat und wieviel Leid sie vorher noch ertragen muss» [1]. Und so wägen sie mutig und nüchtern ab, was sie auf der Plus-Seite noch zu erwarten haben – und was dem auf der Minus-Seite entgegensteht. Dies solle man ­allerdings tun, so lange man noch «die Willenskraft und den Mut» habe, um diese klare und ehrliche Bilanzierung zu vollziehen, so der ehemalige Exit-Präsident Werner Kriesi [2]. Also bevor man so alt ist, dass man nicht mehr mag.
Das gibt dem Titelgedanken einen ganz neuen Dreh. Wenn man tatsächlich so alt werden muss, dann war man vorher ein Feigling und hat den Zeitpunkt verpasst, Bilanz zu ziehen und danach zu handeln. Wer mutig war, wird dann eben nicht so alt.
Nicht dass ich diesen Gedanken selber nicht auch nachvollziehen könnte! Was sollen sich die Jahre des Lebens noch hinziehen, wenn das Leben in den Jahren verschwunden ist? Würde ich nicht auch einen Abschied mit Paukenschlag einem Abschied auf Raten vorziehen? Ich fühle mich jedenfalls nicht mutig ­genug für das andere.
Aber wenn ich mir dann überlege, dass sich meine ­Eltern und Schwiegereltern solche Gedanken machen könnten, dann finde ich das erschreckend. Das hiesse, dass sie uns nicht vertrauen würden, dass wir sie ­auffangen und tragen. Sie könnten sich nicht darauf verlassen, dass die Familie, aber auch das Gesundheitssystem und die Gesellschaft Raum, Zeit und Nähe aufbringen für Menschen, die nicht mehr mögen. Sie, die Alten und Schwachen, würden verzweifeln an uns Jungen und Starken. Wären nicht wir dann die Feiglinge, die nicht den Mut aufbrächten, die Schwäche derer auszuhalten, die einst für uns stark waren? Die nicht die Energie aufbrächten, die Systeme zu stärken und die Pflegeausbildungen, die Unterstützungsmöglichkeiten und die Alters- und Pflegeheime? Und nicht die Fantasie, demenzfreundliche Gemeinden zu gestalten und Wirtschaft, welche unbezahlte Care-Arbeit miteinschliesst?
Altwerden ist nichts für Feiglinge. Auch nicht das ­Altwerden derer, die uns lieb sind.