Kurzreihe zum Hintergrund eines Impfobligatoriums

Privilegien und Freiheit oder Solidarität und Verständnis?

FMH
Ausgabe
2021/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20347
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(47):1555

Affiliations
Dr. med., Präsidentin der FMH

Publiziert am 23.11.2021

Eines ist den Beiträgen zum Thema Impfobligatorium meistens gemeinsam – sie polarisieren. In der aktuell aufgeladenen emotionalen Stimmung, vor der auch wir Ärztinnen und Ärzte nicht geschützt sind, sind ­sogar sogenannt «hochkarätige» Artikel von Expertinnen und Experten mit Aussagen versehen, die einem Faktencheck nicht standhalten würden. Eines ist ­sicher: In einer demo­kratischen Gesellschaft braucht es die Meinungsvielfalt, und es braucht die beobachtende und reflektierte Analyse, um die polemisierende Informationsflut in Wissen zu übersetzen. Erst Wissen befähigt die Menschen, die für sie richtige Entscheidung zu treffen.
Wie gross ist der Spielraum für die freie Entscheidung für oder gegen eine Covid-Impfung? Wie und zu welchem Ausmass rechtfertigen sich ge­setzliche Rahmenbe­dingungen für ein Impf­obligatorium? Ist es möglich, geimpft zu sein und sich verantwortungslos zu verhalten gegenüber gefährdeten Mitmenschen? Ist es möglich, nicht geimpft zu sein und verantwortungsvoll zu handeln? Diesen Fragen möchten wir in drei Artikeln nach­gehen. Die ersten zwei, welche in diesem Heft sowie nächste Woche erscheinen, beleuchten fachspezifisch die juristische Ausgangslage und den juristischen Spielraum. In einer der nächsten Ausgaben der Schweizerischen Ärztezeitung folgt ein Interview mit einer Ärztin, einem Juristen und einer Ethikerin. Damit möchten wir einen Beitrag leisten zur Reflexion der ­eigenen Haltung und zur Differenzierung des öffent­lichen Diskurses.
Wissen wird über die Sprache vermittelt, und ver­schiedene Fachdisziplinen, beispielsweise Natur- und Sozialwissenschaften, kommunizieren unterschiedlich. Mit wem wir uns identifizieren, ist tief – und oft unbewusst – in uns verankert. Konkret heisst dies, dass Worte wie Privilegien, Eigen­verantwortung oder Impf­obligatorium unterschiedlich gelesen und verstanden werden. Die Information, die ankommt, muss dabei nicht dem entsprechen, was im Text vermittelt wird. Wir lesen «zwischen den Zeilen», genauso wie wir im direkten Gespräch unser Gegenüber aufgrund seiner nonverbalen Äusserungen bewerten. Im Kontext dieser Komplexität und ihres Gegenspielers, der politischen Polarisierung, möchten wir mit diesen drei Artikeln einen Beitrag leisten zur Differenzierung, und damit einladen zum Dialog.
yvonne.gilli[at]fmh.ch