Pandemiebekämpfung

Pandemiebekämpfung: Mehr Differenzierung, weniger Emotionalisierung

FMH
Ausgabe
2021/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20399
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(49):1639

Affiliations
Dr. med., Präsidentin FMH

Publiziert am 07.12.2021

Mit dieser Ausgabe endet unsere Kurzserie zum Thema Impfobligatorium – ein Thema, das brennt. Gerade hat Österreich unter der grossen Belastung mit steigenden Hospitalisationen eine Impfpflicht angekündigt, deren Umsetzung die Presse als «eine Art Laborversuch für den ganzen Kontinent» [1] beschreibt.
Die neue Virusvariante Omicron, welche von der WHO wie die Deltavariante als «variant of concern» eingestuft wird, hat zu hektischen politischen Massnahmen mit Reisebeschränkungen geführt. Neben politischen Abschätzungen des potenziellen wirtschaftlichen Schadens spielt die Angst vor einer weiteren Überlastung der Intensivstationen eine Rolle. Noch ist nicht viel über Omicron bekannt, auch nicht zu welchem Grad die zugelassenen Impfstoffe gegen diese Variante Schutz vor schwerer Erkrankung bieten.
Gleichzeitig zögerten die politischen Entscheidungsträger trotz bedrohlich steigender Neuerkrankungen und Hospitalisationen wirksame und national koordinierte Massnahmen vor der Abstimmung zum Covid-Gesetz am 28. November hinaus – aus Angst, das ­Abstimmungsresultat zu ihren Ungunsten zu beeinflussen.
Es ist allen bewusst, dass die Pandemie mit SARS-CoV-2 weiter eine Bedrohung darstellt und Massnahmen erfordert. Die wirksamste und wichtigste Massnahme im Moment bleibt die Impfung. Doch bereits heute sehen wir häufigere Durchbruchs-Infektionen bei Geimpften. Die nachlassende Wirksamkeit der Impfung im Laufe der Zeit steht auch im Zusammenhang mit sich ändernden Prävalenzen neu entdeckter Virusvarianten, aktuell Omicron. Emotional ist es verständlich, ­alles auf die Karte Impfung zu setzen, um so möglichst schnell der Pandemie entfliehen zu können. Rational ist diese Strategie mit Unsicherheit behaftet – und ­unzureichend.
Politische Entscheide über Impfobligatorien erfordern gerade deshalb eine gesellschaftlich breit abgestützte Expertise, welche sich keinesfalls auf eine juristische beschränken darf. Dies zeigt das Recht selbst, indem es immer wieder die Verhältnismässigkeit anmahnt [2]. Demnach muss eine Massnahme «geeignet, notwendig und zumutbar» sein [3]. Es gibt somit kein absolutes «Richtig» oder «Falsch», sondern nur ein «Je nachdem».
Ob eine obligatorische Impfung als Massnahme geeignet wäre, ist eine medizinisch-epidemiologische Frage. Die Beurteilung, ob eine obligatorische Impfung notwendig wäre, erfordert auch eine gesellschaftliche Güterabwägung, wie viele Einschränkungen und welche weiteren alternativen Massnahmen akzeptabel sind. Inwieweit es zumutbar ist, das Selbstbestimmungsrecht nicht geimpfter Menschen einzuschränken, ist eine moralisch-ethische Frage. Es gilt also verschiedenste Perspektiven einzubeziehen – und die Komplexität erhöht sich zusätzlich, weil sich die Beurteilungen im Zeitverlauf ändern können. Genauso wie das Virus kann sich die Verfügbarkeit anderer Massnahmen oder der Wissensstand verändern – und Neubewertungen erfordern.
Wenn ein Thema, wie dasjenige über ein mögliches Impfobligatorium, brennt, wird Komplexität gern stark reduziert. Unsere Kurzserie sollte zu einer Differenzierung der Diskussion beitragen. Wir beenden die Serie mit einem tripartiten Interview, in dem eine Ethikerin, ein Rechtswissenschaftler und eine Hausärztin ihre Standpunkte einbringen (ab Seite 1640). In einer Zeit, in der jeder und jede direkt von der Corona-Krise be­troffen ist, emotionalisiert und polarisiert die Impfung. Geimpfte wie Ungeimpfte sehen sich durch die jeweils anderen in ihren individuellen Freiheiten ­beschränkt. Eine Eskalation, in der Andersdenkende als Feinde ­betrachtet werden, denen das Gesetz Grenzen setzen muss, hilft der öffentlichen Gesundheit jedoch kaum weiter. Insbesondere als Ärztinnen und Ärzte müssen wir auf Differenzierung, Dialog und ­Respekt setzen, um unsere Patientinnen und Patienten am besten bei einer realistischen Abwägung von Krankheits- und Impfrisiken sowie in ihren Bewältigungsstrategien unterstützen zu können. So leisten wir bereits heute ­einen grossen Beitrag, ganz ohne ­gesetzlichen Zwang.
1 Wie Österreich die Impfpflicht umsetzen will, Spiegel 48/2021.
2 Gerber K. Covid-19: Verhältnismässigkeit von Massnahmen zur Impfmotivation. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(48):1599–601.
3 Schweizer C. Impfen im Spannungsfeld von Druck und Gegendruck. Schweiz. Ärzteztg.2021;102(49):1640–1644.