Forderung nach einer integrativeren Arbeitsweise und grösserem Impact

Blick auf die klinische Forschung

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2022/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20455
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(06):179-181

Affiliations
a PhD, Leiterin Ressort Wissenschaft SAMW; b Prof. Dr. med., Präsident Arbeitsgruppe «White Paper Clinical Research»

Publiziert am 08.02.2022

Der Nutzen der durch öffentlichen Gelder finanzierten klinischen Forschung für die Gesellschaft ist in der Schweiz noch nicht gross genug. Welche Veränderungen sind notwendig, um die Zersplitterung der Aktivitäten zu verringern und die multi­disziplinäre Zusammenarbeit zu fördern? Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat kürzlich ein White Paper mit sieben Zielen veröffentlicht. Eines davon ist der Aufbau einer nationalen Koordinationsplattform, die Akteure vereinen und den Impact der klinischen Forschung stärken soll.
Die klinische Forschung galt im internationalen Vergleich (Bühler und Burri, SWR, 1992; SWTR Schrift 3, 2002) und in Bezug auf die Qualität der hiesigen ­biomedizinischen Forschung und des Gesundheitssystems insgesamt lange Zeit als Problemkind in der Schweiz. In den vergangenen 20 Jahren war sie Gegenstand zahlreicher öffentlicher Initiativen und gezielter Programme, um ihre Rahmenbedingungen zu verbessern. Das Ergebnis dieser Bemühungen zeigt sich unter anderem an der Wirkung von Schweizer Publikationen in der klinischen Forschung im Vergleich zu den in ­diesem Bereich führenden Nationen (Abb. 1).
Abbildung 1: Entwicklung des Impacts von Schweizer Publikationen in der klinischen Medizin im Vergleich zu in diesem Bereich führenden Nationen zwischen 1981–2013 (A) und 2008–2018 (B) . Siehe White Paper , S. 9. Quelle: SBFI 2020, Clarivate Analytics Data.
Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) hat einen ­entscheidenden Beitrag geleistet zur finanziellen ­Förderung des Nachwuchses in der akademischen und klinischen Medizin (spezifische Programme für die Medizin, Karriereförderinstrumente, Protected Re­search Time for Clinicians), zur Durchführung von Longitudinalstudien und unabhängigen klinischen Studien (Investigator Initiated Clinical Trials [IICT]) sowie zum Aufbau der Clinical Trial Units (CTUs), der Swiss Clinical Trial Organisation (SCTO) und der Swiss Biobanking Platform (SBP). Um die Entwicklung von ­Infrastrukturen und die Vereinheitlichung von Standards für die Verwendung von gesundheitlichen Daten für die Forschung voranzutreiben, finanziert der Bund bis Ende 2024 das Swiss Personalized Health Network (SPHN).
Ihrerseits haben Universitäten, medizinische Fakultäten, Spitäler und deren Forschungseinrichtungen Mittel für die Professionalisierung der Forschung und die Nachwuchsförderung eingesetzt, dies z.B. mit der Einführung neuer MD-PhD-Programme in klinischer Forschung und öffentlicher Gesundheit. Dank öffentlich-privater Partnerschaften haben sie darüber hinaus Zentren für Translationale Forschung ins Leben gerufen, um die Verbindung von Bioengineering und Medizin zu stärken (darunter das sitem-insel in Bern, das Wyss Translation Center in Zürich und das Wyss Center in Genf). Ebenso haben die Institutionen des ETH-Bereichs 2017 die Entwicklung von Technologien für den Gesundheitsbereich zu einem strategischen und finanziellen Schwerpunkt erklärt: via Personalized-Health-and-Related-Technologies-Initiative (PHRT), interdisziplinäre Projekte und durch die Ausbildung des Forschungsnachwuchses.

Es gibt noch viel zu tun

Trotz aller Bemühungen gibt es weiterhin Mankos. Die Erfolgsquote von Projekten der klinischen Forschung ist im Vergleich zu den beim SNF eingereichten Gesuchen für nicht-klinische Projekte niedriger (Abb. 2); die Anzahl der klinischen Forschenden mit Kompetenzen in datenbasierter Forschung, die gelernt haben, klinische Studien zu konzipieren und zu begleiten, bleibt unzureichend; es mangelt an Förderung von Interdisziplinarität und diversen Profilen für die klinische Forschung der Zukunft. ­Patientinnen und Patienten werden bislang nur selten bei der Festlegung der Prioritäten, des Designs, des Outcomes (Patient Reported Outcome Measures [PROMs]) und der Finanzierung klinischer Studien miteinbezogen. Zudem werden die tatsächlichen Bedingungen von Pa­tientinnen und Patienten sowie Klinik in der Forschung nicht ausreichend berücksichtigt. Schliesslich gibt es zu wenige Partnerschaften mit der Industrie und keine hinreichende Unterstützung des langen Prozesses von den Forschungsergebnissen bis zur konkreten Anwendung zum Vorteil der Patientinnen und Patienten.
Abbildung 2: Erfolgsquote und Finanzierung von Projekten der klinischen und nicht-klinischen Forschung beim SNF. Siehe White Paper , S. 10. Quelle: SNF, Division Biologie und Medizin, 2020.
Das im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) von einer Expertengruppe unter der Leitung von Prof. Claudio Bassetti erarbeitete «White Paper Clinical Research» analysiert die wichtigsten Faktoren, die die klinische Forschung verändern, und identifiziert Schwachstellen und Redundanzen in der ­aktuellen Forschungslandschaft. Das Dokument präsentiert eine gemeinsame Vision davon, wie Ressourcen effizienter genutzt, Aktivitäten an gemeinsamen Prioritäten ausgerichtet und Herausforderungen der klinischen Forschung in unserem Land bewältigt werden können.

Integrative klinische Forschungskultur

Dem White Paper liegt die Überzeugung zugrunde, dass gute medizinische Versorgung auf guter Wissenschaft beruht und von ihr abhängt. Es hebt hervor, dass sich die klinische Forschungskultur wandeln muss, um auf allen Ebenen integrativer zu werden. Damit Fragmentierung und Silodenken bald der Vergangenheit angehören, sind gemeinsame strategische Schwerpunkte, eine bessere Koordination und Abstimmung der Aktivitäten sowie gemeinsame (technische, gesetzliche, ethische) Standards unerlässlich.
Auf klinischer Ebene sind Ausbildung, Training, Mentoring und Förderung von klinisch Forschenden mit unterschiedlichen Profilen auf allen Karrierestufen von zentraler Bedeutung. Zudem gilt es, interdiszi­plinäre und interprofessionelle Teams aufzubauen, ­Pa­tientinnen und Patienten und die Bevölkerung ins­gesamt einzubeziehen sowie die Perspektiven von Fachleuten aus Gesundheitswesen, Technologie, Wirtschaft und Industrie zu integrieren.
Die Methoden der klinischen Forschung müssen durch innovative klinische Studiendesigns, Präzisionsmedizin, technologische und digitale Ansätze (Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Big Data) erweitert werden. Zur Förderung von Health Data Science und personalisierter Gesundheit in der Forschung sind erhebliche Anstrengungen auf nationaler Ebene notwendig, um datenbezogene Richtlinien zu harmonisieren, Infrastrukturen zur Erleichterung der Interoperabilität zwischen Forschungs- und klinischen Akteuren aufzubauen und den Zugang zu Daten von Bevölkerungskohorten in einem klaren rechtlichen Rahmen zu verbessern. Die steigenden regulatorischen Anforderungen müssen institutions- und kantonsübergreifend und in Übereinstimmung mit internationalen Standards behandelt werden.

Sieben Ziele, ein Aktionsplan

Die Ziele sind ehrgeizig. In einer Roadmap definiert das White Paper einen Aktionsplan mit sieben Zielen, ergänzt von einer Reihe von Massnahmen, um die Schweiz als international führendes Land in der patien­tenzentrierten klinischen Forschung zu etablieren:
1. Schaffung einer nationalen Plattform zur Koordination öffentlicher Akteure in der klinischen Forschung
2. Aufbau starker Partnerschaften mit der Öffentlichkeit, der Bevölkerung und den Patientinnen und Pa­tienten
3. Förderung eines Gesundheitssystems, das die klinische Forschung systematisch integriert: Good care comes with – and from – good science
4. Investitionen in die Entwicklung von innovativen, dynamischen klinischen Forschungsansätzen, Designs und Technologien, die durch Digitalisierung ­ermöglicht werden
5. Förderung von translationalen, multidisziplinären und integrierten klinischen Forschungsteams
6. Gewährleistung eines Umfelds, das für klinisch Forschende und Gesundheitsforschende attraktiv ist und sie auf allen Karrierestufen unterstützt
7. Komplexitätsreduktion bei regulatorischen und datenbezogenen Prozessen, um die Effizienz zu steigern und die Umsetzung klinischer Forschung zu beschleunigen

Dringend nötig: Eine gemeinsame Vision

Die erste Empfehlung des White Paper ist der Aufbau ­einer nationalen Plattform, die den Austausch zwischen den öffentlichen Akteuren in der klinischen Forschung stärken und die Perspektive der öffentlichen Gesundheit einbeziehen soll. Bislang fehlt eine solche Austauschstruktur, die alle Akteure zusammenbringt und konzertierte Aktivitäten sowie eine klare Verteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten ermöglicht.
Das SBFI hat die Notwendigkeit einer solchen Struktur erkannt und die SAMW als unabhängige Instanz mit dem Aufbau einer nationalen Koordinationsplattform Klinische Forschung für die BFI-Periode 2021–2024 ­beauftragt (samw.ch/de/cpcr). Die Plattform wird ­weder eine Regulations- noch eine Kontrollinstanz sein. Sie soll prioritäre Handlungsfelder für die öffentlich finanzierte klinische Forschung definieren und Empfehlungen für die entsprechenden Entscheidungsorgane formulieren. Das Ziel sind ein effizienteres System sowie die Verbesserung von Qualität und Impact der klinischen Forschung.
Für die erfolgreiche Umsetzung der im White Paper präsentierten ehrgeizigen Vision ist das Engagement der staatlichen und institutionellen Akteure zwar entscheidend, jedoch nicht ausreichend. Die aktive Beteiligung aller, die von klinischer Forschung profitieren – Patientinnen und Patienten sowie die Bevölkerung als Ganzes –, und eine klare politische Unterstützung sind ebenso unerlässlich. Die Covid-19-Pandemie hat unter anderem gezeigt, dass es möglich ist, klinische Forschung effizienter, gemeinschaftlicher und schneller zu organisieren und durchzuführen.

Das Wichtigste in Kürze

• Dank öffentlichen Investitionen in diverse Initiativen, Dateninfrastrukturen und Finanzierungsinstrumente hat sich die patientenorientierte klinische Forschung in der Schweiz in den vergangenen 20 Jahren verbessert.
• Dabei kam es jedoch zu Zersplitterungen und Redundanzen, die die Steuerung des Systems erschweren. Dies wurde insbesondere durch die Coronakrise verdeutlicht.
• Das «White Paper Clinical Research» der SAMW formuliert sieben Ziele und einen Ak­tionsplan, um die patientenorientierte klinische Forschung in der Schweiz zu stärken.
• Die erste Massnahme ist die Schaffung einer nationalen Koordinationsplattform, um die zahlreichen Akteure zusammenzubringen, Prioritäten und Verantwortlichkeiten zu klären sowie gemeinsame Aktivitäten zu unterstützen.
Das «White Paper Clinical Research» ist in Englisch mit Zusammenfassungen in Deutsch und Französisch erhältlich. Es kann auf der SAMW-Website heruntergeladen oder kostenlos als Druckversion bestellt werden. Mehr Informationen zum ­­­­­White Paper und zur nationalen Koordinationsplattform unter: ­­­­­­­­­­­­samw.ch/klinische-forschung
Prof. Claudio Bassetti, Bern (Präsident); Prof. Murielle Bochud, ­Lau­sanne; Prof. Thierry Calandra, Lausanne; Prof. Urs Frey, Basel; Prof. Gio­vanni Frisoni, Genf; Prof. Antoine Geissbühler, Genf; David Haerry, Bern; Prof. Samia Hurst, Genf; PD Dr. Irène Knüsel, Bern; Prof. Christiane Pauli-Magnus, Basel; Prof. Rahel Naef, Zürich; Dr. Nicole Schaad, Bern (Gast); Prof. Daniel Scheidegger, Arlesheim; Dr. Kevin Selby, Lausanne; Prof. Roger von Moos, Chur; Prof. Stephan Wind­ecker, Bern; Prof. Bernd Wollscheid, Zürich; Dr. Liselotte Selter, SAMW (ex officio); Dr. Myriam Tapernoux, SAMW (ex officio); Dr. Sarah Vermij, SAMW (ex officio).
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