Gemeinsam für mehr Lebensqualität

Tribüne
Ausgabe
2022/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20493
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(06):192-194

Affiliations
Stellvertretende Chefredaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publiziert am 08.02.2022

Auf der Palliativstation des Claraspitals Basel arbeiten unterschiedliche Professionen eng zusammen, um die Symptome der Erkrankten zu lindern und die bestmögliche Lebensqualität zu erhalten. Weshalb die Interprofessionalität hier besonders wichtig ist – und wie sie im Berufsalltag gelebt wird. Ein Stationsbesuch.
Krebs. Weit fortgeschritten. In einem Körper, der noch nicht einmal die Hälfte seiner statistischen Lebens­erwartung erreicht hat. Das schmerzt.
Deshalb ist die junge Frau hier, auf der Palliativstation des Claraspitals in Basel. Der Gang der acht Betten umfassenden Station ist hell, die Wände unaufdringlich pastellgrün gestrichen und mit grossformatigen Bildern verziert: Ein dicker, dunkelbrauner Stamm schiebt sich auffallend schräg in die Höhe. Droht er umzustürzen? Neben ihm leuchtet ein Licht, das ihn sanft zu halten scheint. Eva Balmer, Oberärztin und Fachliche Leiterin der Palliativstation, tritt aus einem Büro. Es ist Zeit für die morgendliche interprofessionelle Besprechung des Kernteams, bestehend aus Ärztinnen, Ärzten und Pflegenden.
«Die Patientin hat körperliche Schmerzen. Aber auch die Auseinandersetzung mit ihrer Situation schmerzt sie. Sie ist noch dabei, anzukommen und sich an uns zu gewöhnen», berichtet eine Pflegefachfrau. Das Pflegeteam hat eine besonders intensive Beziehung zu den ­Patientinnen und Patienten und hat deshalb Informa­tionen, die für die Behandlung oft wichtig sind. «Wie geht es ihr heute?», fragt Eva Balmer und meint damit nicht nur den körperlichen Zustand der Patientin. Denn der Schmerz, der hier auf der Palliativstation gelindert werden soll, ist mehr als ein körperliches Symptom.

Physischer und psychischer Schmerz

Schmerz hat viele Gesichter. Und es braucht viele Gesichter, um ihm entgegenzutreten. «Als Medizinerin bin ich auf die medikamentöse Behandlung von Schmerz spezialisiert», erklärt Eva Balmer ihre Position im interprofessionellen Gefüge. Im Normalfall schützen uns Schmerzen. Sie zeigen, dass es eine Gefahr gibt, dass der Körper belastet, bedroht oder sogar zerstört wird.
Im besten Fall genügen medizinische Handlungen, die sich auf den körperlichen Schmerz beschränken, um ihn zu vertreiben. Die Bedrohung wird eliminiert, das Problem gelöst, der Schmerz verschwindet. Doch bei einer tödlichen Krebsdiagnose ist es komplizierter. «Die Ohnmacht, in der sich Patientinnen, Patienten und Angehörige aufgrund einer Krebsdiagnose befinden, kann einen seelischen Schmerz verursachen, der körperlich spürbar wird», sagt David Hutter, Oberarzt auf der Palliativstation.
Ein Entweder-oder zwischen physischem und psychischem Schmerz, ein Leiden, das schlimmer ist als das andere, gibt es nicht. «Seelischen und körperlichen Schmerz können wir nicht gegeneinander ausspielen», sagt Andreas Dörner, Leiter Psychologische Dienste am Claraspital und Teil des interprofessionellen Teams auf der Palliativstation. Werde auch der seelische Schmerz behandelt, könne das die Wirkung von medizinischen Schmerzmitteln potenzieren.
Die Beispiele aus dem Behandlungsspektrum der ­Psychologischen Dienste sind einleuchtend: Die Musik­therapie kann die Atmung verbessern, dadurch Spannungen lösen und das körperliche Wohlergehen ver­bessern. Und genau wie die Kunsttherapie hilft sie den Patientinnen und Patienten bei der Erkenntnis, dass es auch im Endstadium einer Krebserkrankung mehr gibt als den Schmerz. «Die Menschen merken, ich kann hier etwas tun und heilsame Orte in mir erkunden», sagt die Kunsttherapeutin Lucia Stäubli. Andreas Dörner fasst zusammen: «Schmerz ist ein Zustand, in dem ich mich befinde. Sobald ich in der Lage bin, auch noch andere Zustände zu sehen, wird er flexibler.»
Stationsleiterin Anna Pertoldi (links) und Eva Balmer, Oberärztin und Fachliche Leiterin der Palliativstation des Claraspitals in Basel, setzen bei der Behandlung schwer Erkrankter auf Interprofessionalität.

Wo die Fäden zusammenlaufen

15 Uhr: Im Aufenthaltsraum der Palliativstation findet die wöchentliche interprofessionelle Besprechung mit dem erweiterten Team statt. Hier werden alle Fälle in grosser Runde besprochen. Dazu gehören neben dem Kernteam aus Ärztinnen, Ärzten und Pflegenden auch Mitarbeitende aus der Physiotherapie, der Seelsorge, dem Case Management und der Psychologischen Dienste. An diesem Donnerstag sind zehn Personen anwesend.
Aus dem grossformatigen Bild neben dem Sitzungstisch scheinen die Sonnenstrahlen auf das Behandlungsteam zu leuchten. Schmale Baumstämme ragen gen Himmel, ihre Baumkronen sind jenseits des Bildausschnitts, dafür ist der Waldboden zu sehen. Von Totholz und Laub genährt wachsen neue Pflanzen. Der Schatten verschwindet nur dort vom Waldboden, wo Lichtstrahlen auftreffen. Jeder einzelne Strahl zählt.
Eva Balmer schaut in die Runde und beginnt mit dem nächsten Fall. Die junge Patientin mit dem weit vor­angeschrittenen Krebs habe eine sehr komplexe Schmerzsituation. «Sie realisiert, wie stark die Krankheit in ihr Leben eingreift», sagt die Ärztin und leitet damit über zu den psychologischen Komponenten des Schmerzes. Eine Pflegefachfrau berichtet, dass die Pa­tientin am liebsten wieder in ihrer eigenen Wohnung leben würde; der Physiotherapeut erzählt, dass die junge Frau gern mobil und kräftig werden und in den Räumen der Physiotherapie trainieren möchte. «Aber selbst das Duschen tut ihr schon weh. Sie kann sich noch nicht einschätzen», kommentiert eine Pflegefachfrau. Die Kunsttherapeutin macht darauf aufmerksam, dass noch unklar sei, wie die Beziehung der Patientin zum Vater ist. Eine weitere Pflegefachfrau informiert, dass die Patientin wohl auch einen Bruder habe. Die Case Managende ­berichtet kurz: «Die Rente ist abgeklärt.» Und die Seelsorgerin fragt: «Soll ich abwarten? Gebt ihr mir Bescheid, falls ich kommen soll?»
Bei der interprofessionellen Besprechung wird alles zusammengeführt, was für die Behandlung der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen wichtig sein könnte. «Die Patientin beziehungsweise der Pa­tient steht im Zentrum, aber wir ummanteln auch das Umfeld. Deshalb ist es wichtig zu wissen, ob alle Angehörigen abgeholt sind», erklärt Anna Pertoldi, Stationsleiterin der Palliativstation.
Blick auf den Gang der Palliativstation des Claraspitals in Basel.
Jedes Puzzlestück ist wichtig, um den Schmerz der Betroffenen und der Angehörigen ganzheitlich zu behandeln. «Gegenüber Ärztinnen und Ärzten wollen sich Patientinnen und Patienten oft stark zeigen. Bei der Pflege suchen sie eher Trost», erklärt der Psychologe Andreas Dörner. Und dem Physiotherapeuten berichten Erkrankte von körperlichen Zielen, die sie mit Personen aus anderen Berufsgruppen nicht besprechen würden. «In der interprofessionellen Sitzung führen wir all diese Informationen zusammen», sagt Andreas Dörner, der den hohen Respekt schätzt, den alle ­Berufsgruppen auf der Palliativstation voreinander haben: «Wir wissen, wie wir die Stärken aller Professionen einsetzen können.»

Spezialisierte Palliative Care am Claraspital

Die Palliativstation am Claraspital ist eine eigenständige Abteilung mit acht Betten für «Spezialisierte Palliative Care». Das heisst, es werden Patientinnen und Patienten mit unheilbaren, lebensbedrohlichen Erkrankungen in komplexen oder instabilen Krankheitssituationen behandelt. Neben körperlichen Beschwerden werden auch seelische, soziale und spirituelle Aspekte berücksichtigt. Das interprofessionelle Kernteam besteht aus Pflegefachpersonen sowie Ärztinnen und Ärzten mit spezialisierten Kompetenzen in Palliative Care. Zum erweiterten Team gehören Fachleute aus den Bereichen Psychologie, Kunst­ und Musiktherapie, Seelsorge, Sozialarbeit, Physiotherapie und Ernährungstherapie.

Jede Fachperson hat ihre Schwerpunkte

Genau darum geht es laut Eva Balmer: «Wir müssen immer wieder neu herausfinden, von welchem Spezialwissen eine Patientin oder ein Patient profitiert.» Als Fachliche Leiterin der Palliativstation halte sie das Team und die Informationen zusammen. Aber: «Niemand von uns hat mehr Gewicht als die andere Person, sondern jeder hat seine Schwerpunkte.»
Die Sitzung ist vorüber, draussen geht die Sonne unter. Auf den Bildern an den Wänden der Palliativstation scheint sie unermüdlich weiter. Ihr Licht trifft auf ­einen Waldweg, jeder Strahl wird an einer anderen Stelle des Wegs wichtig, um ihn sicher zu beschreiten. Auf dem Gang stehen Eva Balmer und Anna Pertoldi, tauschen sich leise miteinander aus, um anschliessend weiterzuarbeiten, dem Schmerz zu begegnen, eine jede auf ihre Weise und doch gemeinsam.

Schwerpunktserie Interprofessionalität

Die interprofessionelle Zusammenarbeit von Fachpersonen aus verschiedenen Gesundheitsberufen gilt als wichtiges Mittel, um den Herausforderungen im Gesundheitswesen zu begegnen. Aber wie weit ist die Schweiz in diesem Bereich tatsächlich? ­Welche Hürden und Chancen gibt es? In unserer Schwerpunkt­serie betrachten wir das Thema aus unterschiedlichen Perspek­tiven.