Hausärzteschaft, Psychiatrie, ­Chirurgie: ihre Bilanz der Pandemie

Tribüne
Ausgabe
2022/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20706
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(17):565-568

Publiziert am 26.04.2022

Die Corona-Pandemie hat das Schweizer Gesundheitssystem erschüttert. Zwei Jahre nach Beginn der Krise normalisiert sich die Situation allmählich: Zeit, Bilanz zu ziehen. Wie haben die verschiedenen medizinischen Fachrichtungen die Pandemie erlebt und bewältigt? Welchen Herausforderungen sind sie begegnet? Welche Lehren konnten sie daraus ziehen? Wir haben fünf Ärztinnen und Ärzte befragt.
Am 16. März 2020 ruft der Bundesrat in der Schweiz die «ausserordentliche Lage» aus: Versammlungen von mehr als fünf Personen sind verboten, Restaurants, Geschäfte und Schulen schliessen. Ein bis dahin unbekanntes Virus zwingt zum Lockdown. Die Zahl der Fälle steigt auf über 1000 pro Tag, die Situation führt zu Fragen und Ängsten. In der Ferne ertönen die Sirenen der Krankenwagen; das Pflegepersonal ist Tag und Nacht an der Front.
Ashkan Forouzani / Unsplash
Zwei Jahre lang waren die Beschäftigten im Gesundheitswesen täglich Corona ausgesetzt, sie wurden schlagartig damit konfrontiert. Sie hatten keine Zeit, sich darauf vorzubereiten, denn das Virus war plötzlich überall. Wie kann man Patientinnen und Patienten wirksam schützen? Wie isoliert man infizierte Personen, wenn der Gang in der Notaufnahme voll ist? Wo werden symptomatische Personen getestet? Welche Symptome sind typisch? Wie kann man den Patientenfluss steuern und genügend Betten zur Verfügung stellen?
Für die verschiedenen medizinischen Fachrichtungen gab es viele Herausforderungen, vor allem zu Beginn der Krise, als selbst Expertinnen und Experten Schwierigkeiten hatten, das neue Virus zu verstehen, es noch keine Impfstoffe gab und sich die Anweisungen des Bundes ständig änderten. Die Hausärztinnen und Hausärzte fühlten sich beispielsweise vom Krisen­management ausgeschlossen, während die Arbeit der psychiatrischen Fachpersonen an Bedeutung gewann. Zum Zeitpunkt der Bilanz sprechen ein Allgemeinmediziner, ein Pneumologe, eine Notaufnahme-Leiterin, eine Psychiaterin und ein Chirurg dar­über, was für ihr Fachgebiet gut und weniger gut funktioniert hat und welche Lehren daraus für die nächste Pandemie ge­zogen werden können.

«Wir Hausärztinnen und -ärzte waren eine zu wenig genutzte Ressource»

«Als Hausarzt höre ich von Patientinnen und Patienten viel Dankbarkeit, dass sie jederzeit in die Praxis kommen durften. Bei Notfällen, zum Testen, zum Beraten, zum Impfen. Und sie sind dankbar, dass wir auch am Telefon erreichbar waren.
Wir sollten uns auch alle bewusst sein, dass unser Gesundheitssystem sowohl ambulant wie stationär eines der international besten ist und dass wir glücklich sein können, dass es so viele gut ausgebildete und engagierte Gesundheitsfachpersonen gibt.
Auf der anderen Seite waren wir Hausärztinnen und Hausärzte während der Pandemie eine zu wenig genutzte Ressource. Im Kanton Bern mussten wir zum Beispiel richtig dafür kämpfen, die Impfstoffe zuerst überhaupt, und dann in ausreichender Menge zu erhalten. Obwohl Impfen zu unserem Alltag gehört.
Ausserdem mussten wir oft als Übersetzerinnen und Navi­gatoren Unterstützung leisten. Die immer wieder angepasste Risikoliste oder die Anweisungen zu den Tests waren für viele Patientinnen und Patienten schlicht nicht verständlich. Diese Dokumente wären durch den Input von Hausärztinnen und -ärzten verständlicher geworden.
Oder beim Thema Long Covid: Diese Krankheit hat viele Facetten und Ausprägungen, da braucht es eine gute Koordination zwischen verschiedenen Spezialisten. Das ist eine unserer Kernaufgaben. Die Hausarztmedizin könnte künftig helfen, Wissen in diesem Bereich zu generieren.
Für eine nächste Pandemie sind wir gut gerüstet, wenn unsere Schulen kritisches Denken noch stärker vermitteln, damit alle Menschen Informationen und Daten selbstsicherer interpretieren können. Im Gesundheitswesen sollten wir Ressourcen auf- und nicht abbauen: Wenn jemand am Morgen mit Atemnot erwacht, dann die Hausärztin aufsucht und am Abend intubiert beatmet werden muss, braucht es in allen Bereichen genügend medizinisches Personal. Diese Gesundheitsfachpersonen absolvieren eine lange Aus- und Weiterbildung. Der Nachwuchs muss daher auch mit Blick auf solche Ausnahmesituationen stetig gefördert werden.»
Prof. Dr. med. Dr. phil. Sven Streit,
Hausarzt in Konolfingen
Wortprotokoll: Sandra Ziegler

«Die zweite Welle war die stressigste Zeit»

«Im Spitalzentrum Biel wurde bereits im Februar 2020 eine Task Force eingeführt: So konnten wir auf der Notfallstation schnell und unbürokratisch auf die erste Covid-Welle reagieren. Die Erfahrungen der anderen Länder und Kantone, die vor uns betroffen waren, halfen uns zu antizipieren. Meiner Meinung nach hätten wir noch früher im Krisenmodus sein müssen. Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Übervorsicht und sinnvoller Vorbereitung.
Eine der grössten Herausforderungen war der Umgang mit dem Informationsbedürfnis der Bevölkerung. Wegen der grossen Unsicherheit wollten alle Auskunft per Telefon, unsere Notfallstation wurde von Anrufen überschwemmt. Im achtstündigen Telefondienst bekam ich mal 80 Anrufe. Das Informationsbedürfnis war auch intern gross. Wir mussten das Personal sehr kurzfristig schulen, beispielsweise wie es sich und die Patienten schützen soll. Die Umsetzung der Isolationsmassnahmen stellte eine Challenge dar, vor allem in der zweiten Welle, als wir ein Overcrowding erlebten.
In den zwei Krisenjahren war die zweite Welle die stressigste Zeit: Im Alltag kehrte man wieder zur Normalität zurück, doch wir mussten eine starke Corona-Welle verkraften. Die Kostenübernahme war nicht ganz geklärt, obwohl wir finanziell unter Druck standen. Mit der Impfung und dem besseren Wissen ging es ab 2021 wieder bergauf.
In der ersten Welle erlebten wir das weltweite Phänomen der ‘fehlenden Patienten’: Im Notfall waren chronische Krank­heiten seltener vertreten. Es gab auch weniger Sportunfälle, da Freizeitmöglichkeiten eingeschränkt wurden. Auch Verkehrsunfälle nahmen aufgrund der geringeren Mobilität der Bevölkerung ab. Nach der ersten Welle im Sommer 2020 erlitten wir eine Abgangswelle bei den Pflegenden. Obwohl die Spitäler als Gesamtorganisation während der Pandemie viel Resilienz zeigten, litten daran Sektoren wie Notfall, IPS und Pflege. Schwachstellen wie Burnout-Gefahr, Prekarität bei der Pflege und wenig Investition in die Telemedizin waren schon zuvor da, haben sich aber mit der Krise verschärft.»
Dr. med. Sabine Thomke,
Chefärztin Notfallmedizin, ­Spitalzentrum Biel
Wortprotokoll: Julia Rippstein

«Die Pandemie hat den Schleier über der Psychiatrie gelüftet»

«Dank oder wegen der Pandemie wird mehr über die psychische Gesundheit gesprochen. Die Medien haben das Thema aufgegriffen, da viele Menschen unter der Krise gelitten haben. Das hat den Schleier über der Psychiatrie und der Arbeit von psychiatrischen Fachpersonen gelüftet. Die Bevölkerung hat das Angebot wahrgenommen und es wird mehr genutzt. Manche brauchen es, andere kommen mit weniger akuten Problemen. Das ist eine positive Entwicklung, kann aber bei den Angehörigen ein Gefühl der Hilflosigkeit hervorrufen. Der Lockdown hat bestehende familiäre Spannungen verschärft. Einige Personen fürchteten um ihren Arbeitsplatz, was zu Ängsten, Stimmungsschwankungen und depressiven Verstimmungen führte. Bei jungen Menschen stellten wir einen Anstieg von suizidalen Gedanken fest.
Die Psychiatrieabteilung des CHUV durchlief verschiedene Phasen: Während des Lockdowns mussten wir die Notfälle einschränken. Um mit den Betroffenen in Kontakt zu bleiben, griffen wir auf die Video-Konsultation zurück. Dieses Instrument hat sich als sehr nützlich erwiesen und wir setzen es manchmal immer noch ein. Die Nachfrage nach Spitaleinweisungen war lange Zeit rückläufig, was fälschlicherweise den Eindruck erweckte, dass es der Bevölkerung gut gehe. Entsprechend gross waren die Auswirkungen. Im Herbst 2021 wurden wir von Einweisungsanträgen überschwemmt, es fehlten Betten, und diese Situation dauert an. Die Pandemie hat uns gelehrt, flexibel und kreativ zu sein, und diesen Geist müssen wir beibehalten. Es gab Fälle, in denen Psychiatriepersonal in der Notaufnahme eingesetzt wurde, und ungenutzte Tageszentren wurden zur Aufnahme von Akutpatientinnen und -patienten genutzt.
Die Ressourcen in der Psychiatrie sind nach wie vor knapp. Wir müssen mehr vernetzt denken und die Zusammenarbeit mit unseren Sozialpartnern, zum Beispiel den Sozialdiensten, den Asylheimen, aber auch den Hochschulen, verstärken. Die Mit­arbeitenden dieser Einrichtungen sollten besser in psychischen Krankheiten geschult werden, damit sie uns helfen können, Personen mit einer psychiatrischen Störung zu identifizieren.»
Prof. Kerstin von Plessen, Leiterin der Abteilung für Psychiatrie,
Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV)
Wortprotokoll: Julia Rippstein

«Das Wissensmanagement stellte eine grosse Herausforderung dar»

«Es war speziell, dass mit Corona erstmals seit längerem eine völlig unbekannte Infektionskrankheit auftrat. Es gab keine Informationen in Lehrbüchern, keine erprobten Behandlungsmethoden.
Der Isolationsaufwand war auch neu. Wir kannten zwar von Krankheiten wie beispielsweise dem Norovirus Isolations­anforderungen, aber nicht in dieser gros­sen Anzahl. Dem vermehrten Personalaufwand stand der Personalausfall gegenüber. Wir mussten überlegen, wie wir damit umgehen. Hinzu kam, dass in unserem Einzugsgebiet in der Nordwestschweiz gerade bei der Isolationspflicht vieles kantonal unterschiedlich geregelt wurde.
Das Wissensmanagement stellte insgesamt eine grosse Herausforderung dar. Im Spital konnten wir uns mit Hygiene- und ­Infektions-Fachleuten beraten. Für Niedergelassene war das schwieriger. Hier haben die Fachgesellschaften bei einer nächsten Pandemie eine wichtige Aufgabe. Sie sollten Informationen zur Verfügung stellen und den interdisziplinären Austausch fördern. Doch wie kommt ein guter Austausch mit anderen Fachgesellschaften, dem Bund und den Kantonen zustande?
Wir können stolz darauf sein, dass in der Schweiz die Versorgung der Patientinnen und Patienten immer aufrechterhalten werden konnte. Wir konnten sie vor Ansteckungen schützen und die Behandlungsqualität sichern. Das Gesundheitspersonal hatte eine enorme Einsatzbereitschaft.
Die Pandemie hat gezeigt, dass die Hygiene-Massnahmen nützen. Dank der Maskenpflicht gab es zum Beispiel weniger Hospitalisationen von Personen mit COPD. Das wird unser Verhalten auch bei anderen Krankheiten beeinflussen. Corona wird zu einer ‘neuen Normalität’ werden. Auch Long Covid wird bleiben. Allerdings wird sich das Krankheitsbild noch schärfen.
Es kann festgehalten werden, dass aus Patientenperspektive, der Perspektive einer Gesundheitsinstitution, der Fachgesellschaften und des Staates seit Pandemiebeginn sehr viel evidenz-­basiertes Wissen und Erfahrungswissen den Alltag in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit ändern und prägen.»
Dr. med. Thomas Sigrist,
Leiter Departement Innere Medizin und Chefarzt
Pneumologie an der Klinik Barmelweid,
Wortprotokoll: Rahel Gutmann

«Den Fachkräftemangel kann man als Long Covid der Spitäler bezeichnen»

«Während der Pandemie musste der Operationsbetrieb mehrfach reduziert werden. Der Koordinationsaufwand ist dadurch massiv gestiegen. Es war sehr anspruchsvoll, die Termine zu koordinieren und Kriterien für die Dringlichkeitsstufen zu er­arbeiten, nach denen die Patientinnen und Patienten eingeplant wurden, denn die Nachfrage war ja vorhanden.
Wir haben nicht erlebt, dass Operationen durch zeitliche Verschiebungen plötzlich nicht mehr nötig waren. Die Indikationsstellungen waren auch vor der Pandemie korrekt. Hingegen hat sich dadurch die Leidensphase der Patientinnen und Patienten klar verstärkt – und zwar physisch, etwa aufgrund von Schmerzen, aber auch psychisch. Denn für die meisten Menschen ist die Zeit vor einem Eingriff eine belastende Zeit.
Die Massnahmen waren trotzdem sinnvoll und nötig, denn wir wollten und konnten dadurch in der Schweiz die Qualität der medizinischen Versorgung aufrechterhalten. Das ist uns durch die Selektion von Patientinnen und Patienten nach Dringlichkeit gelungen. Es gab zwar längere Wartezeiten, aber wer eine Behandlung benötigte, hat sie bekommen – und zwar qualitativ gut. Das war in anderen Ländern zeitweise nicht so.
In den ersten Wellen war das Verständnis der Mitarbeitenden für betriebliche Anpassungen und fachübergreifende Unterstützung hoch. Jetzt ist dieses Verständnis deutlich kleiner geworden. Viele Mitarbeitende fühlen sich ausgelaugt und müde. Sie machen Pause, nehmen unbezahlten Urlaub oder orientieren sich beruflich neu. Daraus ergibt sich ein Fachkräftemangel, den man symbolisch auch als ‘Long Covid der Spitäler’ bezeichnen kann. In vielen Spitälern ist aktuell aus personaltechnischen Gründen kein voller Operationsbetrieb möglich.
Wir müssen alles tun, um die Attraktivität der Gesundheits­berufe, und insbesondere auch der Pflege, zu stärken. Allfällige Lohnanpassungen werden nicht ausreichen. Die Fachkräfte, welche in übergreifenden und interdisziplinären Teams funktionieren müssen, brauchen insbesondere gute Entwicklungsperspektiven und ein motivierendes Arbeitsumfeld. Je attraktiver wir die Berufe im Gesundheitswesen gestalten, desto mehr Fachkräfte werden bleiben, zurückkehren oder sich überhaupt für diese Tätigkeiten entscheiden.»
Prof. Dr. med. Stefan Breitenstein,
Chefarzt Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie
am Kantonsspital Winterthur und Präsident
der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie
Wortprotokoll: Eva Mell