Organspende: Lange Wartezeiten für Patientinnen und Patienten

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Ausgabe
2022/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20758
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(18):589-592

Affiliations
a Redaktorin Swisstransplant, Kommunikation, Bern; b PD Dr. med., CEO Swisstransplant, Facharzt Herz- und thorakale Gefässchirurgie, Bern

Publiziert am 03.05.2022

Ende März 2022 warteten 1462 Menschen auf ein Spendeorgan. Die Hoffnung auf den erlösenden Anruf «Wir haben ein passendes Organ für Sie!» ist für Patientinnen und Patienten auf der Warteliste gross. Leider kommt er oft zu spät: Pro Woche sterben ein bis zwei Personen, während sie auf ein Organ warten.
Die Schweizerische Nationale Stiftung für Organspende und Transplantation Swisstransplant blickt auf ein herausforderndes Jahr zurück. Die Coronapandemie belastete das ohnehin stark beanspruchte Fachpersonal auf den Intensivstationen. Trotz dieser Belastung konnten die Organspendeprogramme beinahe lückenlos aufrechterhalten werden. Der grosse Einsatz der Fachpersonen Organspende und die Sensibilisierungsmassnahmen für die Bevölkerung führten zu leicht verbesserten Zahlen bei Organspenderinnen und Organspendern und einer Stabilisierung der Transplantationszahlen.

Mangel an Spendeorganen

Eine Studie in der Fachzeitschrift The Lancet Public Health zeigt auf, dass die Zahl der Organtransplanta­tionen während des ersten Jahrs der Coronapandemie (2020) im Vergleich zu 2019 weltweit um rund 16% zurückgegangen ist. In der Schweiz sank die Zahl der Or­gantransplantationen im gleichen Zeitraum um rund 1,5% – und dies trotz im internationalen Vergleich vielen Todesfällen in Zusammenhang mit dem Coronavirus [1].
Dennoch ist die Situation in der Schweiz weiterhin angespannt. Die Zahl der Menschen auf der Warteliste für ein lebensrettendes Organ ist mit 1462 per 31. März 2022 hoch.
Es fehlt an Spendeorganen, konkret gibt es dreimal weniger Organe als Menschen, die dringend ein neues Organ benötigen. Die lange Warteliste führt dazu, dass Patientinnen und Patienten erst sterbenskrank werden müssen, bevor sie auf der Warteliste genügend weit oben sind, um transplantiert zu werden. Das ist aus medizinischer Sicht alles andere als optimal, menschenunwürdig und eine Qual für alle Betroffenen.

Postmortale und Lebendspende

«Einen Tag nach dem 18. Geburtstag erhielt ich von meinem Vater eine Niere. Das war vor 31 Jahren – seither geht es uns beiden gut. Eine Organspende kann jederzeit zum Thema werden. Jede Person muss selbst entscheiden, was sie darüber denkt.» Florian, nierentransplantiert, Botschafter von Swisstransplant
2021 haben in der Schweiz 166 Personen ihre Organe postmortal gespendet. Das sind so viele wie noch nie in einem Jahr und rund 14% mehr als im ersten Pandemiejahr 2020. Der Anteil der DCD-Spende, also der Spende im Hirntod nach Herz-Kreislauf-Stillstand, blieb auf hohem Niveau konstant – seit drei Jahren ist mehr als jede dritte Organspende eine DCD-Spende (Abb. 1). Die durchschnittliche Anzahl transplantierter Organe lag bei 2,9 Organen pro spendende verstorbene Person. Als spendende Person gilt jede verstorbene Person, bei der ein chirurgischer Eingriff mit der Absicht zur Organentnahme zum Zweck einer Transplantation erfolgt ist.
Abbildung 1: Anzahl spendende verstorbene Personen in der Schweiz in den letzten fünf Jahren. DBD: Spende im Hirntod; DCD: Spende im Hirntod nach Herz-Kreislauf-Stillstand.
Im vergangenen Jahr haben 125 lebende Personen eine ihrer Nieren (in 98% der Fälle) oder einen Teil ihrer Leber (in 2% der Fälle) einer Patientin oder einem Patienten gespendet. Am häufigsten sind sogenannt gerichtete Lebendspenden, bei denen sich die spendende Person bereit erklärt, einer bestimmten Empfängerin beziehungsweise einem bestimmten Empfänger eine Niere oder einen Teil der Leber zu spenden. In den allermeisten Fällen sind das Spenden innerhalb der Familie (Eltern, Geschwister, Ehepartnerin oder Ehepartner), aber auch zwischen Freunden.
Manchmal ist eine gerichtete Nieren-Lebendspende aus immunologischen Gründen nicht möglich (inkompatibles spendendes-empfangendes Paar). Für diese Fälle gibt es seit 2019 das Programm Überkreuz-Nieren-Lebendspende [2]. Durch die Aufnahme aller inkompatiblen Paare in einen nationalen Pool ermöglicht dieses Programm mehr passende Kombinationen, um mehr Betroffenen zu helfen. 2021 konnten auf diese Weise vier Nieren-Lebendspenden ermöglicht werden.

Transplantationen im Jahr 2021

«Als 18-Jährige war ich plötzlich ganz gelb, ich hatte vorher keine Ahnung von meiner Erbkrankheit, es ging alles dramatisch schnell. Ich lag im Sterben – nur dank der Lebertransplantation kam ich zurück ins Leben. Ich hatte grosses Glück.» Désirée, lebertransplantiert, Botschafterin von Swisstransplant
Am Ende des Organspendeprozesses steht die Transplantationshoffnung vieler schwerkranker Menschen auf ein neues oder besseres Leben. Dank des professionellen und engagierten Einsatzes der Transplantationsteams für ihre Patientinnen und Patienten ging der Wunsch nach einem neuen Leben mit einem transplantierten Organ im Jahr 2021 für 587 Menschen auf der Warteliste in Erfüllung − das sind 68 Personen mehr als 2020 (+13%).
Neu kamen 708 Personen auf die Warteliste für eines oder mehrere Organe. Am häufigsten wurden Personen neu auf die Warteliste für eine Niere genommen, am zweithäufigsten auf die Warteliste für eine Leber (Abb. 2). Personen, die auf mehr als ein Organ warteten, werden in jeder entsprechenden Organwarteliste gezählt, für das Total jedoch nur einmal. Eine Multi­organtransplantion wird bei jedem entsprechenden Organ gezählt, für das Total zählt sie jedoch nur als eine Transplantation.
Abbildung 2: Anzahl Personen auf der Warteliste (mindestens einen Tag), Anzahl Todesfälle auf der Warteliste und Transplantationen in der Schweiz 2021 je Organ (inkl. ­Lebendspende).
Im vergangenen Jahr starben 72 Personen, während sie sich auf der Warteliste für eines oder mehrere Organe befanden.

Wartezeit bis zur Transplantation

Die mediane Wartezeit auf ein Herz sowie auf eine Leber stieg 2021 gegenüber 2020 an. Bei den übrigen Organen sanken die medianen Wartezeiten im Vergleich zu 2020 bei Lunge, Niere und Dünndarm. Im Jahr 2021 betrug die durchschnittliche Wartezeit auf eine Niere mit 983 Tagen fast drei Jahre. Die in Abbildung 3 aufgeführten Wartezeiten veranschaulichen die Organknappheit in der Schweiz und zeigen die Dringlichkeit eines Paradigmenwechsels hinsichtlich des Willensäusserungsmodells zur Organspende. Angegeben ist der Median der Wartezeiten aller im jeweiligen Jahr transplantierten Personen (ohne gerichtete Lebendspende). Personen auf der Warteliste sind manchmal aus gesundheitlichen oder logistischen Gründen vorübergehend nicht transplantationsfähig. In diesem inaktiven Status erhalten sie keine Organangebote. Es gilt, bei den gezeigten Wartezeiten zu beachten, dass es sich um Medianwerte handelt und dass die Streuung (unteres–oberes Quartil beziehungsweise die mittleren 50% der Werte) für alle Organe gross ist. Das bedeutet, dass die Wartezeiten im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen können [3].
Abbildung 3: Wartezeit (im aktiven und inaktiven Status) bis zur Transplantation je Organ für die letzten fünf Jahre.

Erweiterte Widerspruchslösung in Sicht

«Egal, ob Ja oder Nein – wichtig ist, dass man sich mit dem Thema Organspende auseinandersetzt. Mir hat es das Leben gerettet. Das ist das Argument, das andere überzeugt. Ich hoffe, dass die erweiterte Widerspruchslösung die Spenderate erhöht.» Steffen, lebertransplantiert, Botschafter von Swisstransplant
Vor dem Hintergrund der oben angeführten Zahlen zur Organspende zeigt sich die Wichtigkeit der Abstimmung über das neue Transplantationsgesetz vom 15. Mai 2022. Angestrebt wird ein potenzieller Wechsel von der erweiterten Zustimmungslösung zur erweiterten Widerspruchslösung. Im aktuellen System dürfen einer verstorbenen Person nur Organe, Gewebe oder Zellen entnommen werden, wenn das Einverständnis dazu vorliegt. Mit der erweiterten Widerspruchslösung gilt: Wer seine Organe nicht spenden will, soll dies explizit in einem Register festhalten. Sowohl bei der angestrebten erweiterten Widerspruchslösung wie auch bei der heutigen Regelung können die Angehörigen stellvertretend den mutmasslichen Willen der verstorbenen Person äussern, wenn dieser nicht bekannt ist. Sind die Angehörigen nicht erreichbar oder bestehen Sprachbarrieren oder soziokulturelle Hindernisse, ist eine Organentnahme in jedem Fall unzulässig.

Angehörige und Spitalpersonal entlasten

Eine grosse Herausforderung liegt heute darin, dass zu wenige Menschen ihren Willen für oder gegen eine Organspende festhalten oder ihren nahestehenden Personen kommunizieren. In diesem Fall müssen die Angehörigen den schwerwiegenden Entscheid übernehmen. Im belastenden Trauermoment lehnen sie heute eine Organspende mehrheitlich ab.
Dies obwohl 80% der Bevölkerung der Organspende positiv gegenüberstehen. Es muss somit davon ausgegangen werden, dass der Entscheid der Angehörigen oft nicht mit dem der verstorbenen Person übereinstimmt. Mit dem neuen System der erweiterten Widerspruchslösung wird öfter bekannt sein, wenn eine Person ihre Organe nicht spenden möchte – im Ernstfall eine riesige Erleichterung für Angehörige und das Spitalpersonal.

Spenderin oder Spender werden

Eine Organspenderin oder ein Organspender kann bis zu neun Menschen das Leben retten und ihre Lebensqualität deutlich verbessern. Dass man selbst oder ein Familienmitglied auf ein Spendeorgan angewiesen sein könnte, ist dabei sechsmal wahrscheinlicher, als dass man seine Organe spenden kann. Alle Personen können Organspenderin oder Organspender werden. Es besteht keine obere Altersgrenze, massgebend ist der Zustand der einzelnen Organe zum Zeitpunkt der Spende. Patientinnen und Patienten mit einer aktiven, bösartigen Krebserkrankung können in den meisten Fällen keine Organe spenden, allenfalls nach fünf ­tumorfreien Jahren. Ebenfalls nicht spenden können Menschen mit Prionenerkrankungen (Creutzfeldt-Jakob), Tollwut oder einer Blutvergiftung mit unklarem Erreger.

Breite Unterstützung für neues Gesetz

FMH, Swisstransplant und ein breites überparteiliches Ja-Komitee [4] unterstützen das neue Transplanta­tionsgesetz. Der Systemwechsel zur erweiterten Widerspruchslösung rettet Leben, bringt Sicherheit und Klarheit und entlastet Angehörige und das Spitalpersonal. Gute Gründe, um am 15. Mai mit dem wichtigsten demokratischen Organ, der Stimme, ein überzeugtes Ja einzulegen.

Das Wichtigste in Kürze

• Im Jahr 2021 gab es in der Schweiz 166 postmortale Organspenden (rund 14% mehr als im Vorjahr) und 125 Lebendspenden.
• Die mediane Wartezeit auf ein Herz sowie auf eine Leber stieg 2021 gegenüber 2020 an. Bei den übrigen Organen sanken die medianen Wartezeiten im Vergleich zu 2020.
• Die Annahme des neuen Transplantations­gesetzes vom 15. Mai 2022 würde den Wechsel von der erweiterten Zustimmungslösung zur erweiterten Widerspruchslösung ermöglichen.
• Mit der erweiterten Widerspruchslösung wäre öfter bekannt, wenn eine Person ihre Organe nicht spenden möchte; das kann im Ernstfall auch eine Erleichterung für Angehörige und das Spitalpersonal bedeuten.
paula.steck[at]swisstransplant.org
1 Aubert O, Yoo D, Zielinski D, Cozzi E, Cardillo M, Dürr M, et al. ­COVID-19 pandemic and worldwide organ transplantation: a ­population-based study. The Lancet Public Health. 2021 Aug; S2468266721002000.
4 Ja zum Transplantationsgesetz, www.transplantationsgesetz-ja.ch