Assistierter Suizid

«Wir wollen ethische Sensibilität bei Ärztinnen und Ärzten fördern»

Tribüne
Ausgabe
2022/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20967
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(3334):1052-1053

Affiliations
Leitender Chefredaktor EMH Schweizerischer Ärzteverlag

Publiziert am 17.08.2022

Die Ärztekammer hat neu die SAMW-Richtlinie «Umgang mit Sterben und Tod» in ihre Standesordnung aufgenommen. Dabei stand das ­angepasste Unterkapitel zum Umgang mit assistiertem Suizid im Fokus der Diskussionen. Welcher Mehrwert sich mit diesen Richtlinien für die Ärzteschaft ergibt, erklärt Professor Paul Hoff, Präsident Zentrale Ethikkommission, SAMW, im Interview.
An der Tagung der Ärztekammer im Mai dieses Jahres (siehe auch Protokoll S. 1009) wurden die von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) 2018 publizierten Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» mit dem angepassten Kapitel 6.2.1 den Teilnehmenden zur Abstimmung vor­gelegt. Wie kam es zu dessen Ausarbeitung?
Seit 2004 waren die Richtlinien zur Betreuung von Personen am Lebensende Teil der FMH-Standesordnung. Darin hiess es, «nur wenn das Lebensende absehbar ist», sei assistierter Suizid ethisch vertretbar. 2018 wurden die Richtlinien einer zeitgemässen Anpassung ­unterzogen. Das Kapitel 6.2.1 der überarbeiteten Version hielt fest, dass ein assistierter Suizid auch dann vertretbar sein könne, wenn das Lebensende noch nicht absehbar ist – sofern «ein unerträgliches Leiden» vorliegt. Die Ärztekammer hatte diese Formulierung als zu vage verworfen.
Professor Paul Hoff, Präsident Zentrale ­Ethikkommission, SAMW, Foto: Rene Pfluger.
Welche Folgen hatte das?
Die überarbeiteten Richtlinien wurden von der Ärztekammer zunächst abgelehnt. Als Folge mussten sich Ärztinnen und Ärzte an zwei Versionen orientieren: an derjenigen des FMH-Standesrechts von 2004 und zusätzlich an den überarbeiteten Richtlinien der SAMW von 2018. Dieser Zustand war für alle unbefriedigend. Deshalb hat eine Arbeitsgruppe mit Delegierten der SAMW sowie des Zentralvorstands und Rechtsdienstes der FMH vergangenes Jahr nach einem Weg gesucht, wie das Kapitel 6.2.1 der SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» von 2018 so präzisiert werden kann, dass die medizin-ethischen Prinzipien von 2018 gewahrt werden, aber eine Aufnahme in die Standesordnung der FMH möglich wird.

Richtlinien für den assistierten Suizid

1976 hat die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) medizin-ethische Richtlinien zum Themenbereich «Lebensende» veröffentlicht. 2004 wurden die Richtlinien «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» verabschiedet, die auch Teil der FMH-Standesordnung wurden. 2015 hatte die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine Subkommission beauftragt, diese zu überarbeiten. 2018 wurden die revidierten Richtlinien unter dem Titel «Umgang mit Sterben und Tod» veröffentlicht. Explizit wird die Suizidhilfe breiter thematisiert. Das neue Kapitel 6.2.1, insbesondere der Begriff «unerträgliches Leiden», hatte in der öffentlichen Vernehmlassung zu Kontroversen und nach Veröffentlichung zu Verunsicherungen geführt. Deshalb wurden die zugrunde liegenden medizin-ethischen Überlegungen präzisiert und von den zuständigen SAMW-­Gremien 2021 verabschiedet. Im Mai 2022 wurden diese Richtlinien von der Ärztekammer der FMH bestätigt und ­anstelle der Fassung von 2004 in die Standesordnung auf­genommen.
Der neue Text benennt explizit, was 2018 implizit enthalten war: Suizidhilfe bei gesunden Personen ist im Sinne dieser Richtlinien medizin-ethisch nicht vertretbar. Suizidhilfe ist bei einem urteilsfähigen Menschen dann vertretbar, wenn dieser unerträglich unter den Symptomen einer Krankheit und/oder Funktionseinschränkungen leidet, die Schwere des Leidens durch eine entsprechende Diagnose und Prognose substanziiert ist, andere Optionen erfolglos geblieben sind oder von ihm als unzumutbar abgelehnt werden. Um sicherzustellen, dass der Sterbewunsch wohlerwogen und dauerhaft ist, ­schreiben die Richtlinien vor, dass der Arzt bzw. die Ärztin mindestens zwei ausführliche Gespräche im Abstand von mindestens zwei Wochen mit der betroffenen Person zu führen hat. Eine Abweichung ist in begründeten Ausnahmefällen jedoch möglich.
Quelle: SAMW
Können Sie den Begriff «unerträgliches Leiden» bitte näher skizzieren und erläutern, weshalb sich 2018 gerade zu diesem Begriff ein Dissens ergeben hatte?
Der Begriff ist nicht scharf operationalisierbar, wie so häufig in der Medizin. Diese Ambivalenz muss man aushalten. Gerade deshalb helfen Richtlinien, doch Entscheide nehmen sie nicht ab. Hierfür haben Ärztinnen und Ärzte einen subjektiven Ermessensspielraum, um in solchen Fällen – wie dem Wunsch nach assistiertem Suizid – individuelle Entscheidungen zu treffen. Durch Präzisierungen gegenüber der Version von 2018 konnte nun mehr Orientierung geschaffen werden.
Inwieweit bietet die angepasste Fassung des Kapitels 6.2.1 der Ärzteschaft erhöhte rechtliche und ethische Sicherheit im Umgang mit Menschen, die den Wunsch nach assistiertem Suizid äussern?
Wir hatten uns unter den gegebenen rechtlichen Vorgaben eine verstärkte ethische Orientierungsfunktion durch die Präzisierung zum Ziel gesetzt. Dies haben wir erreicht. Die Standesordnung der FMH ist kein Gesetz, hat aber eine normative Wirkung für die Ärztinnen und Ärzte. Gesetzliche Grundlagen kann und will die SAMW nicht ändern.
Was kann die SAMW tun?
Wir können auf rechtlich heikle Gegebenheiten hinweisen, die zu medizin-ethischen Herausforderungen führen und dadurch zum gesellschaftlichen und politischen Diskurs beitragen. Durch Debatten, wie sie durch die Anpassung des Kapitels 6.2.1 entstanden sind, können Gesellschaft und Politik den Faden aufgreifen und aktiv werden. Die SAMW erarbeitet Empfehlungen, um die ethische Sensibilität und Expertise der Ärztinnen und Ärzte auf den Stationen und in den Praxen zu fördern.
Ist der Fall hiermit erledigt? Oder wo braucht es gegebenenfalls weiteren Handlungsbedarf respektive Anpassungen?
Ethische Diskussionen dieser Art lassen sich nie gänzlich abschliessen. Insbesondere wo es um die Endlichkeit des Lebens geht, halte ich es für ­wichtig, dass wir immer wieder eine gesamtgesellschaft­liche Debatte führen, in die sich die Ärzteschaft aktiv einbringt. Dazu gehört auch, sich für das ­eigene Berufsethos einzusetzen. Nach unserer Überzeugung sollte der assistierte Suizid auch künftig nicht zum Standard ärztlicher Tätigkeit gehören.
Das dürften Organisationen wie Dignitas oder Exit wohl anders sehen …
Wir stellen uns der gesellschaftlichen Diskussion, sind aber nicht der Auffassung, dass assistierter Suizid eine Routineaufgabe des Arztberufs ist oder ­werden soll. Wenn Behandlungsmöglichkeiten aus­geschöpft sind, dann kann Suizidhilfe ethisch gerechtfertigt sein. Es bleibt aber eine höchst indivi­duelle Entscheidung der Ärztin oder des Arztes, dem Wunsch nachzugeben, sich an einem assistierten ­Suizid zu beteiligen. So ist etwa die Entscheidungs­findung bei Patientinnen und Patienten mit einer psychischen Erkrankung noch schwieriger als bei physischen Leiden. Wenn beispielsweise ein Patient in einer depressiven Phase einen Suizidwunsch äus­sert, ist zunächst seine Depression zu behandeln. Bei vielen ist nach einer Behandlung der Wunsch nach Suizid nicht mehr da. Deshalb muss man stets sehr gut abwägen, und genau hierfür bieten die angepassten Richtlinien Hand.
Inwieweit wurden Vertreterinnen und Vertreter von Sterbehilfeorganisationen in den Entscheidungs­prozess involviert?
Wir haben 2018 eine breite öffentliche Vernehmlassung durchgeführt, was die SAMW bei der Erarbeitung oder Revision von Richtlinien immer tut. Eingaben von Sterbehilfeorganisationen wurden damals natürlich berücksichtigt. Aktuell ging es nicht um eine grundlegende Überarbeitung, sondern um eine Klärung. Die generelle Stossrichtung hat sich zwischen 2018 und 2021 nicht geändert. Anders war es bei der ­Revision von 2018. Für weiterführende konstruktive Diskussionen sind wir offen.
Kritiker monieren, die Richtlinien seien nicht präzisiert, sondern vielmehr verschärft worden. Was sagen Sie dazu?
Nochmals: Es liegt keine neue Fassung der Richtlinien vor. Die Regeln sind jetzt aber klarer formuliert. Die Richtlinien bleiben auf der Linie von 2018, bieten aber mehr Sicherheit. Neu ist eindeutig festgehalten, dass ein schwerwiegendes Leiden durch eine Diagnose und Prognose zu belegen ist. Die Richtlinien hatten das 2018 zwar bereits impliziert, nun wurde es klargestellt und präzisiert.
Jährlich wählen rund 1000 Personen hierzulande den begleiteten Freitod. Ein gesellschaftlich viel diskutiertes Thema, hinzu kommen Lobbyorganisationen, welche die Debatte befeuern. Was macht das mit der Ärzteschaft? Inwieweit stehen Ärztinnen und Ärzte aufgrund der Debatte unter Druck?
Ärztinnen und Ärzte werden ausgebildet, gesundheitliche Störungen zu behandeln und zu beheben. Das geht zurück bis zu Hippokrates. Die aktuelle Situation stellt jedoch radikale Fragen an das Selbstbild unseres Berufs. Das bewegt die Ärzteschaft enorm. Das ist auch gut so und muss so bleiben. Als eine Folge er­arbeiten wir Richtlinien, die helfen, sich in einer ethisch komplexen Gemengelage zu orientieren und Entscheidungen zu treffen, die für Patientinnen und Patienten, aber auch für behandelnde Ärztinnen und Ärzte, stimmen.

Direkte und indirekte aktive ­Sterbehilfe

Es gibt verschiedene Formen der Sterbehilfe. Hervorzuheben sind die direkte und indirekte passive Sterbehilfe.
Direkte aktive Sterbehilfe: gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines anderen Menschen. Der Arzt oder ein Dritter verabreicht dem Patienten absichtlich eine Spritze, die direkt zum Tod führt. Diese Form der Sterbehilfe ist heute strafbar nach Artikel 111 (vorsätzliche Tötung), Artikel 114 (Tötung auf Verlangen) oder Artikel 113 (Totschlag) des Strafgesetzbuchs.
Indirekte aktive Sterbehilfe: Zur Linderung von Leiden werden Mittel (z. B. Morphium) eingesetzt, die als Nebenwirkung die Lebensdauer herabsetzen können. Der möglicherweise früher eintretende Tod wird in Kauf genommen. Diese Art der Sterbehilfe ist im Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt, gilt aber als grundsätzlich erlaubt. Auch die Richtlinien über die Sterbehilfe der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW-Richtlinien) betrachten diese Form der Sterbehilfe als zulässig.
Quelle: Bundesamt für Justiz