Reden ist Silber, Gehen ist Gold

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21004
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(37):74

Publiziert am 13.09.2022

Es war Heinrich von Kleist, der in einem Aufsatz vorschlug, Probleme, denen durch Meditation nicht beizukommen sei, dadurch zu lösen, dass man mit anderen darüber spreche. Entsprechend lautete der Titel seines Aufsatzes Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Viel zu oft allerdings habe ich an Versammlungen erlebt, wie ein (typischerweise männlicher) Votant endlos redete und die geäusserten Gedanken dabei nicht klarer wurden, sondern sich im Kreis zu drehen begannen. Ähnlich oft ist es vorgekommen, dass ein Streit dadurch eskaliert ist, dass Rede und Widerrede sich gegenseitig hochgeschaukelt haben. Sinnvolle, lösungsorientierte Gedanken haben in solchen Situationen offensichtlich keine Zeit, sich zu «verfertigen». Als Alternative zum «Reden» ziehe ich deshalb das «Gehen» vor: Es ist zielführender, nachhaltiger und zudem gesund.
Hermann Amstad
Dr. med., ehem. Generalsekretär SAMW
Seitdem ich meine frühere, arbeitsintensive Stelle verlassen und mich selbständig gemacht habe, bin ich praktisch jeden Tag mindestens eine Stunde zu Fuss unterwegs. Ich besorge den Einkauf zu Fuss und gehe zu Fuss zum Coiffeur, an eine Sitzung oder zum Bahnhof. Meistens reicht es auch noch zu einem halb- bis einstündigen Spaziergang, der mich durch Quartierstrassen und eine Parkanlage zu einer kleinen Kirche und wieder zurück nach Hause führt. In der Regel habe ich dabei meine AirPods in den Ohren und höre Kantaten von Bach oder Klaviersonaten von Mozart. Selbstverständlich ist es ein Privileg, den Tag nicht mehr minutengenau einteilen zu müssen, tagsüber draussen unterwegs sein zu können und sich von der Sonne bescheinen zu lassen. Manche benötigen dazu als Stimulus einen Hund; mir hilft eine Smartwatch, die mich auch bei schlechtem Wetter motiviert, eine Mindestzahl von 10 000 Schritten pro Tag zu erreichen.
Der rasche, regelmässige Schritt lockert Körper und Geist, und die Musik in meinem Kopf versetzt mich in einen beinahe tranceartigen Zustand. Das ist der Moment, in dem ganz unterschiedliche Gedanken auftauchen. Das können Erinnerungsfetzen an längst Vergangenes sein, Ärger, den ich kürzlich erlebt habe, Szenen aus einem Buch, das ich gerade lese, oder Aufgaben, die noch zu erledigen sind. Aus diesem Potpourri kristallisiert sich mit der Zeit ein einzelner Gedanke heraus, und den beginne ich dann intensiv zu umkreisen. Häufig ist es eine spezielle Herausforderung, mit der ich gerade konfrontiert bin, die ich so bearbeiten kann. Ich teile ein grosses Problem in mehrere kleine auf, ich versuche, das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Ich probiere unterschiedliche Lösungswege aus, prüfe Argumente, übernehme oder verwerfe sie. Der entspannte Zustand, in den mich das Gehen zusammen mit der Musik versetzt, trägt dazu bei, dass ich offen bin für andere Sichtweisen, neue Ideen oder unkonventionelle Ansätze.
Auf diese Weise habe ich schon manche Auseinandersetzung klären, manche Projektidee konkretisieren und manchen Bericht klarer strukturieren können. Der tägliche Spaziergang wird mir auch in Zukunft Inspirationsquelle sein. Gelegentlich habe ich sogar die Fantasie, dass sich viele der heutigen Probleme lösen liessen, wenn man entspannter – im Gehen! – an sie heranginge. Kläglich gescheitert allerdings bin ich bisher beim Versuch, unterwegs eine mehrheitsfähige Lösung für die Probleme des heutigen Gesundheitssystems zu skizzieren. Dafür müsste ich wohl den gesamten Jakobsweg abwandern.