Wie viele Worte ersetzt ein Blick?

Praxistipp
Ausgabe
2022/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21060
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(39):80-81

Publiziert am 27.09.2022

Arzt-Patienten-Kommunikation In der Regel kommunizieren Ärztinnen und Ärzte über das gesprochene Wort. Aber auch Mimik, Gestik, Tonfall und Körpersprache registrieren die Patientinnen und Patienten. Wolf Langewitz erklärt das Zusammenspiel von verbaler und nonverbaler Kommunikation.
Wenn medizinische Fachpersonen die Regeln der gemeinsamen Entscheidungsfindung befolgen (shared decision making), dann ist das nichts anderes als Kommunikation. Genau darum geht es hier – um aliquid comune, die Frage, wie Personen mit Hilfe der Kommunikation etwas Gemeinsames herstellen. In diesem Prozess müssen die Beteiligten nicht dazu kommen einer Meinung zu sein, sie können sich auch einig werden, dass sie nicht einer Meinung sind, dann besteht das Gemeinsame in der Gewissheit, dass Differenzen bestehen.

Wann Mimik und Gestik entscheiden

Wie gelingt diese Einigung? Personen einigen sich auf etwas, indem sie miteinander sprechen – verbale Kommunikation – oder indem sie durch Mimik, Gestik, Tonfall, Körpersprache, die nonverbale Kommunikation, ihre Meinung kundtun. Immer wieder wird kolportiert, die nonverbale Kommunikation sei viel wichtiger als die verbale Kommunikation. Diese Behauptung geht auf Arbeiten von Albert Mehrabian [1] zurück, die in der Folge allerdings unzulässig verallgemeinert wurden. Er hatte in seiner 93/7-Formel festgehalten, dass bei der Entstehung des Eindrucks von: «Ich mag diese Person» (Im Original: Liking) 7% der Sympathie auf verbale Äusserungen zurückzuführen sind und 93% auf nonverbale Signale. In späteren Arbeiten hat er herausgefunden, dass der nonverbale Eindruck höheres Gewicht erhält, wenn verbal vermittelter Inhalt und nonverbaler Gehalt sich widersprechen. Das ist plausibel. Doch sonst gilt die Feststellung von James S. Atherton [2]: «Diese Behauptung [dass 93% einer Botschaft nonverbal vermittelt wird] ist nicht nur kontraintuitiv, sie ist offensichtlicher Unsinn. Sie bezieht sich auf einige sehr bewusst zweideutige Kommunikationsvorgänge, und Mehrabian selbst weist die Fehlinterpretation seiner Aussagen zurück.»
Das Interessante an der nonverbalen Kommunikation ist, dass sie nur zu einem geringen Teil auf expliziten Regeln beruht, während verbale Kommunikation sich auf ein geteiltes Vokabular und Regeln für deren Nutzung berufen kann. Explizite Regeln existieren als «Faustregeln» für bestimmte kultur-sensitive Verhaltensweisen, etwa das Berühren und den Augenkontakt, aber auch da sind Studien mit Vorsicht zu geniessen, die vorgeben zu wissen, «wie man’s machen sollte». Vor allem auf Personen, die ihr Herkunftsland verlassen haben, lassen sich Studienergebnisse nicht ohne Weiteres übertragen. Diese Personen stecken oft auf dem Weg zwischen dem, was ihnen vertraut ist und dem, was sich ihnen an neuen Herausforderungen stellt.

Die Regeln des Unausgesprochenen

Für viele Modi der nonverbalen Kommunikation gelten aber implizite Regeln, die auch transkulturell Gültigkeit haben: Wenn ein Händedruck zwei bis drei Sekunden dauert, wird er als angenehm erlebt [3]. Einige Literatur existiert zur Bedeutung von Blickkontakten [4, 5]. Viele Menschen, die über ein Thema sprechen, über das sie nachdenken müssen, tun dies mit abgewandtem Blick. Am Ende schauen sie das Gegenüber an und signalisieren so den Wunsch, der oder die Andere möge übernehmen. Zur Rolle des Schweigens legen die meisten Studien nahe, dass Schweigephasen von mehr als zwei Sekunden Dauer als besondere Interaktionsform wahrgenommen werden, die je nach Kontext unterschiedliche Bedeutung erhält [6].
Personen nutzen also in der Regel nonverbale und verbale Kommunikation, um sich über etwas einig zu werden. Es ergibt keinen Sinn, zwischen beiden eine Hierarchie zu postulieren – gelungene Kommunikation ist immer eine Mischung, deren Zusammensetzung vom Kontext abhängig und nicht vorhersehbar ist.
Wolf Langewitz
ist Professor emeritus für Psychosomatik am Universitätsspital Basel und schreibt an dieser Stelle regelmässig über Arzt-Patienten-Kommunikation.
© Luca Bartulović
Mehrabian A,A Nonverbal communication.Chicago, IL: Aldine’Atherton, 1972
Emese Nagy, Tibor Farkas, Frances Guy, Anna Stafylarakis: Effects of Handshake Duration on Other Nonverbal Behavior Perceptual and Motor Skills 2020, 127(1) 52–74
Ho S, Foulsham T, Kingstone A (2015) Speaking and Listening with the Eyes: Gaze Signaling during Dyadic Interactions. PLoS ONE 10(8): e0136905. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0136905
Cañigueral R and Hamilton AFdC (2019) The Role of Eye Gaze During Natural Social Interactions in Typical and Autistic People. Front. Psychol. 10:560. doi: 10.3389/fpsyg.2019.00560
Gramling et al.: Epidemiology of Connectional Silence in specialist serious illness conversations. Patient Education and Counselling 2022:2005-2011