Das Heute zählt, nicht das Morgen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21087
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(41):74

Publiziert am 11.10.2022

Wieder einmal die Jungen! Bringen die Älteren auf die Palme, wie es diejenigen vor dreissig Jahren mit ihren Älteren gemacht haben. Aber dieses Mal ist es ernst. Erfrecht sich doch die sogenannte Generation Z, ihr eigenes Wohlbefinden über die Interessen der Gemeinschaft zu stellen. Geboren um das Jahr 2000, quasi schon mit dem Smartphone in der Hand, immer online und maximal unverbindlich verstehen sie ihr Leben als persönliche Selbstoptimierung.
Und deswegen verzweifeln die Chefs an der Generation Z. Diese Jungen wollen auf keinen Fall einen Vollzeitjob, sie wollen Zeit haben zum Reisen und Surfen, sie lassen sich nicht langfristig verpflichten, sie lesen nach fünf Uhr abends keine E-Mails mehr, und wenn mehr verlangt wird, sind sie weg.
«Quiet Quitting» nennt sich diese Einstellung auf Tiktok – so ziemlich das Gegenteil von dem, was die Japaner «shokunin» nennen. Das wird zunächst übersetzt mit «Handwerker», aber es ist viel mehr! Es umfasst das Berufsethos, den Stolz auf den eigenen Beruf, ja die Hingabe und das Bestreben, darin zur Perfektion zu gelangen. Und dies auch als Dienst an der Gemeinschaft. Die «Quiet Quitters» dagegen ziehen eine klare Grenze zwischen ihrer Arbeit und ihrem Leben und versuchen, ihre persönliche Life-Balance fortwährend zu optimieren. Und wenn einem die Arbeit dabei in die Quere kommt, dann verlässt man das Alte und probiert etwas Neues.
Leute, so kann man doch nicht zusammenleben! So finden die Handwerkerbetriebe keine Lehrlinge mehr und die Schulen keine Lehrpersonen. Und vielleicht auch die Gemeinden keine Hausärzte. Nicht weil es dazu selbstlose Altruisten bräuchte, beileibe nicht! Auch Lehrlinge haben Spass, und auch Hausärztinnen geniessen das Leben. Aber – so diese pessimistischen Analysen – die neue Generation hat keine Lust und auch keinen Atem mehr, etwas durchzuhalten, wenn es richtig anstrengend wird. Nichts, bei dem man sich auch abends nochmal hinsetzen muss und vielleicht sogar noch am Wochenende arbeitet. Nichts, was hiesse, sich längerfristig auf etwas einzulassen. Ich und mein Leben zählen, meine Ziele, mein Wohlbefinden. Das Heute, nicht das Morgen. Und auch nicht die unbezahlte Extrameile für die Gemeinschaft.
Ohoh … schwingt da etwa ein bisschen Neid mit? Verrät sich da meine Zugehörigkeit zur Generation X, der letzten mit einem Fuss im analogen Zeitalter, die sich mit Ehrgeiz und Engagement ihre Führungsposition und ihre Statussymbole erarbeitet hat? Und damit nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Hierarchien geprägt hat. Macht zählt und oben ankommen. Chef sein und Dinge beeinflussen können. Natürlich zum Guten – oder zumindest zum Besseren.
Wir werden gerade vorgeführt von diesen frechen Youngsters, die sich so ungeniert das Leben dick auf ihre Brotscheiben schmieren. Die den Spatz fliegen lassen, weil sie sicher sind, die Taube zu kriegen. Und die auf das Gute mitsamt dem Besseren pfeifen, weil sie jetzt alles haben wollen. Weil ja nach dem Jetzt wahrscheinlich sowieso kein Morgen mehr kommt.
Was mich an noch früher erinnert … das wäre dann wohl Generation U gewesen: Faron Young 1955: «I wanna live fast, love hard and die young». Ein Countrysong – Generation Z würde die Augen verdrehen. Aber spätestens bei «don’t ever think you can tie me down, I’m gonna stay footloose and fancy free» würden sie mitsingen. Alles schon dagewesen.
Ich ertappe mich, wie ich mitsinge. Hier und jetzt. Es ist schon ein Lebensgefühl, das ansteckt. Aber das mit dem Morgen, das müssen wir nochmal anschauen. Wenn wir uns gegenseitig etwas anstecken würden, wir pflichtbewussten Arbeitstierchen mit dem Berufsethos und die fröhlichen Lebenskünstler mit dem Freiheitsdrang, vielleicht täte uns das beiden gut. Und erst recht unserer Gesellschaft, unserer Arbeitswelt, unseren Hierarchien. Und nicht zuletzt der Zukunft.
Christina Aus der Au
Prof. Dr. theol., Mitglied der Redaktion Ethik