Off-Label-Use-Impfung und juristische Aspekte

Aktuell
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21103
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(40):28-31

Affiliations
Dr. iur., Rechtsdienst der FMH

Publiziert am 04.10.2022

COVID-19Es gibt neue Impfempfehlungen des Bundesamts für Gesundheit. Im Einzelfall könnten sie einen Off-Label-Use bedeuten. Was impfende Ärztinnen und Ärzte beachten müssen und wer bei Impfschäden haftet.
Das Bundesamt für Gesundheit hat aktuell eine neue Impfempfehlung publiziert, die ab dem 10. Oktober 2022 gültig ist. «Hauptziel der Auffrischimpfung gegen COVID-19 im Herbst 2022 ist es, besonders gefährdete Personen (BGP), die ein hohes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, vor schweren COVID-19-Erkrankungen und deren Komplikationen zu schützen. Die Impfung bietet diesen Personen vorübergehend einen verbesserten individuellen Schutz vor schwerer Erkrankung, insbesondere in einer Phase mit hoher Virusausbreitung.» [1]
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es sich im Einzelfall um eine Off-Label-Use-Impfung [1] handelt, die zum Beispiel dann gegeben ist, wenn einer ungeimpften Person eine Auffrischungsimpfung mit bivalentem Impfstoff verabreicht wird.
Was ist für impfende Ärztinnen und Ärzte bei einer Abgabe einer Off-Label-Use-Impfung zu beachten?

Haftung bei Impfschäden

Grundsätzlich kommen bei Impfschäden als Haftungssubjekte einerseits der Produktehersteller und andererseits die impfende Ärztin beziehungsweise der impfende Arzt in Frage – subsidiär die Haftung des Bundes im Rahmen der Ausfallhaftung.
Eine Entschädigung durch den Bund an geschädigte Personen kommt für Impfschäden nur in Betracht, wenn diese behördlich angeordnet oder behördlich empfohlen ist (Art. 64 Abs. 1 EpG). Eine Entschädigung wird nur dann gewährt, soweit der Schaden mit zumutbaren Bemühungen nicht anderweitig gedeckt werden kann («subsidiäre Haftung oder Ausfallhaftung»).

Rechtliches bei Off-Label-Use

«Der Einsatz von Medikamenten im Off-Label-Use ist nicht per se unzulässig.» [2]
Die Ärztin beziehungsweise der Arzt hat lege artis dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft die Off-Label-Use-Impfung durchzuführen. Zur ärztlichen Sorgfaltspflicht gehört die lege artis Behandlung, die ärztliche Aufklärung und die ärztliche Dokumentation. Nur dann, wenn die Sorgfaltspflicht verletzt wurde und die übrigen Haftungsvoraussetzungen erfüllt sind (namentlich Vertragsverletzung, Kausalzusammenhang, Verschulden), kann die impfende Medizinalperson haftbar gemacht werden.

Sorgfaltspflicht der Impfenden

Die heilmittelrechtlichen Sorgfaltspflichten sind in Art. 3 und Art. 26 HMG verankert. Art. 3 HMG statuiert für den Umgang mit Heilmitteln eine allgemeine Sorgfaltspflicht, wonach alle Massnahmen getroffen werden müssen, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich sind, damit die Gesundheit nicht gefährdet wird. In Art. 26 Abs. 1 HMG wird die allgemeine Sorgfaltspflicht bei der Verschreibung und der Abgabe von Arzneimitteln konkretisiert: Bei der Verschreibung und der Abgabe von Arzneimitteln müssen die anerkannten Regeln der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften beachtet werden [3].
Die Rechtsprechung hat den Begriff der ärztlichen Sorgfalt mittels Leiturteilen präzisiert. Demnach steht der Ärztin oder dem Arzt sowohl in der Diagnose wie auch in der Bestimmung therapeutischer oder anderer Massnahmen nach dem objektiven Wissensstand oftmals ein Entscheidungsspielraum zu, die ihr beziehungsweise ihm eine Auswahl unter verschiedenen in Betracht fallenden Möglichkeiten einräumt. «Sich für das eine oder das andere zu entscheiden, fällt in das pflichtgemässe Ermessen des Arztes, ohne dass er zur Verantwortung gezogen werden könnte, wenn er bei einer Beurteilung ex post nicht die objektiv beste Lösung gefunden hat. Eine Pflichtverletzung ist daher nur dort gegeben, wo eine Diagnose, eine Therapie oder ein sonstiges ärztliches Vorgehen nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und damit ausserhalb der objektivierten ärztlichen Kunst steht.» [4]
Die vom Bundesgericht definierten Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht sehen vor, dass zwar «der Arzt mit seinem Wissen und Können auf einen erwünschten Erfolg hinzuwirken hat, was aber nicht heisst, dass er diesen auch herbeiführen oder gar garantieren müsse». Zudem richten sich die Anforderungen an die ärztliche Sorgfalt «nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach der Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessensspielraum, den Mitteln und der Zeit, die dem Arzt im einzelnen Fall zur Verfügung stehen, sowie nach dessen Ausbildung und Leistungsfähigkeit» [5]. Im Einzelfall kann ein Behandlungsfehler sogar vorliegen, wenn eine indizierte Off-Label-Use-Behandlung nicht vorgenommen wird. Massgebend ist, was medizinisch geboten ist und was dem medizinischen Standard zum Zeitpunkt der Behandlung entspricht.

Ärztliche Aufklärungspflicht

Die Aufklärung wird seitens Rechtsprechung und Lehre in drei Kategorien unterteilt: in die Eingriffsaufklärung, die Sicherheitsaufklärung und die wirtschaftliche Aufklärung. Wichtig zu wissen ist, dass die Anforderungen an die Aufklärungspflichten an die Ärztin oder den Arzt bei der Durchführung einer Off-Label-Use-Impfung erhöht sind.
Auch die Kostenübernahme muss mit dem Patienten oder der Patientin besprochen werden.
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a) Eingriffs- beziehungsweise Selbstbestimmungsaufklärung

Bei der Eingriffsaufklärung, auch Selbstbestimmungsaufklärung genannt, ist der Patient so aufzuklären, dass dieser in Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechtes entscheiden kann, ob dieser dem Behandlungsvorgang im Off-Label-Use eines Medikamentes oder einer Impfung zustimmen kann. Die Eingriffs- beziehungsweise Selbstbestimmungsaufklärung ist die Grundlage für eine rechtsgültige Patienteneinwilligung. Es geht hier darum, dass die Patientin oder der Patient verstanden hat, um welchen Eingriff es sich handelt und welche Folgen damit verbunden sind. Impfungen sind aus juristischer Sicht ein Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten. Mittels rechtsgültiger Zustimmung durch die Patientin oder den Patienten ist der Behandlungsvorgang nach erfolgter Aufklärung rechtmässig. Durch die ärztliche Aufklärung wird die erforderliche Entscheidungsgrundlage geschaffen, damit die Patientin oder der Patient in Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes einen sogenannten «informed consent» erteilen kann.
Die Ärztin hat mit dem Patienten im Rahmen eines Gesprächs zu klären, ob aufgrund der konkreten Umstände eine Impfung im Off-Label-Use medizinisch notwendig und sinnvoll ist. Ein Off-Label-Use muss sorgfältig abgewogen und dem Patienten erklärt werden, insbesondere muss der Patient auf die gesteigerten Risiken hingewiesen werden.
Bei einer Off-Label-Use-Impfung muss der Arzt die Patientin dem Einzelfall gerecht gründlich aufklären. Vor der Behandlung muss die Patientin darüber aufgeklärt werden, dass es sich um einen Off-Label-Use des Medikamentes beziehungsweise der Impfung mit möglicherweise gesteigerten Risiken handelt. Insbesondere bedarf es der Offenlegung inklusive der medizinisch indizierten Gründe, warum Off-Label-Use hier indiziert ist. Bei einer Impfung im Off-Label-Use muss somit über die Impfung, den Umstand des Off-Label-Use und – im Einzelfall – über den für die Patientin bedeutenden Nutzen sowie die Risiken informiert werden.
Die Aufklärung umfasst daher sowohl häufig auftretende als auch seltene Risiken, sofern diese bekannt sind und schwere Folgen haben können. Es ist über potenziell unbekannte Risiken und ihre Verläufe je nach Schweregrad hinzuweisen. Letztendlich ist jeder Fall eine individuelle Abwägung, also ein Einzelfall.
Zur Aufklärung gehört aber auch, die Patientin oder den Patienten über alternative Behandlungen sowie die ohne die Therapie beziehungsweise Impfung zu erwartenden Risiken aufzuklären. Zudem muss die impfende Person der Patientin oder dem Patienten die wesentlichen Informationen gemäss Fachinformation vermitteln. Die Patientin oder der Patient muss über noch nicht in der Fachinformation enthaltene, aber wissenschaftlich nachgewiesene Nutzen und Risiken informiert werden.
Die haftpflichtrechtliche Verantwortung für die durchgeführte Aufklärung liegt bei der impfenden Ärztin beziehungsweise dem impfenden Arzt. Falls der Patient nicht ordnungsgemäss aufgeklärt wurde, steht aber der behandelnden Ärztin der Einwand offen, dass der Patient – auch wenn eine ordnungsgemässe Aufklärung stattgefunden hätte – ohnehin der Behandlung beziehungsweise der Off-Label-Use-Impfung zugestimmt hätte.

b) Sicherungsaufklärung

Bei der Sicherungsaufklärung (auch therapeutische Aufklärung genannt) geht es darum, die Patientin über das situationsgerechte Verhalten nach der Off-Label-Use-Impfung zu informieren, wie zum Beispiel über Neben- sowie Wechselwirkungen von Medikamenten, Einschränkungen der Fahrtauglichkeit, ihr erforderliches Mitwirken. Bei der Sicherungsaufklärung, die bei Verletzung einem Behandlungsfehler gleichkommt, hat die Patientin die Beweislast zu tragen, dass die Sicherungsaufklärung nicht ordnungsgemäss erfolgt ist.

c) Wirtschaftliche Aufklärung

Zur wirtschaftlichen Aufklärung hat das Bundesgericht in einem Leiturteil aus dem Jahre 1993 BGE 119 II 456, das nach wie vor Gültigkeit hat, die Vorgaben dazu konkretisiert. Im Rahmen der wirtschaftlichen Aufklärung, die insbesondere im Off-Label-Use eine wichtige Rolle spielt, hat die Ärztin oder der Arzt über die fehlende Kostenübernahme durch die Krankenkasse beziehungsweise Kostenübernahme durch Bund und Kanton aufzuklären [6].

Dokumentationspflicht

Die ärztliche Dokumentation, insbesondere die sorgfältige Dokumentation des Gesprächsinhaltes, ist aus beweisrechtlichen Gründen von wichtiger Bedeutung. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung müsse aufgezeichnet werden, was aus medizinischer Sicht notwendig und üblich ist. Die Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit der Aufzeichnungen sind die massgebenden Kriterien. Insbesondere bei Impfungen im Off-Label-Use ist die impfende Ärztin beziehungsweise der impfende Arzt gut beraten, das Aufklärungsgespräch zu dokumentieren.

Berufshaftpflichtversicherung

Betreffend der Vornahme von Off-Label-Use-Behandlungen ist mit der Berufshaft-pflichtversicherung abzuklären, ob diese Behandlungen durch die Police gedeckt sind.

Zusammenfassung

Off-Label-Use eines Impfstoffes ist grundsätzlich zulässig. Es kommen die allgemeinen Haftungsregeln zur Anwendung. Die impfende Ärztin beziehungsweise der impfende Arzt hat die ärztliche Sorgfaltspflicht zu erfüllen und ebenso der Pflicht der ärztlichen Aufklärung und Dokumentation nachzukommen. Basierend auf der Rechtsprechung ist abzuleiten, dass die impfende Medizinalperson dem Einzelfall gerecht wird und erhöhten Aufklärungspflichten nachzukommen hat.
Vor der Impfung muss die Aufklärung der Patientinnen und Patienten erfolgen.
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1 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts BGE 134 IV 175 liegt Off-Label-Use dann vor, wenn «ein Medikament ausserhalb der zugelassenen Indikation oder Dosierung abgegeben wird». Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) definiert Off-Label-Use als «Anwendung fertiger und in der Schweiz zugelassener Arzneimittel, abweichend von der genehmigten und im Arzneimittelkompendium veröffentlichten Fachinformation (z. B. Anwendung eines Arzneimittels in einer nicht registrierten Indikation, Altersgruppe oder Verabreichung in einer nicht zugelassenen Dosierung, Applikationsform oder Anwendungsdauer)» siehe: Abgrenzung von Standardtherapie und experimenteller Therapie im Einzelfall, 2014, 18.
2 OLG Hamm, Urteil vom 31. Januar 2020 (26 U 47/19).
3 Siehe Art. 6 lit. e MedBG.
4 BGE 120 IB 411, S. 413.
5 BGE 120 Ib 411, S. 413.
6 Art. 68 EpG.