Hohe Versorgungsqualität trotz problematischer Trends

Aktuell
Ausgabe
2022/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21133
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(42):34-38

Affiliations
a Dr. phil., Experte, Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH; b Leiterin Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 18.10.2022

Repräsentative BefragungDie Ärzteschaft schätzt die Versorgungsqualität auch in Zeiten der Pandemie als hoch ein. Der Stress und die Arbeitsbelastung sind jedoch stark gestiegen. Viele Ärztinnen und Ärzte haben ihr Arbeitspensum vorübergehend erhöht. Entlastung braucht es insbesondere beim administrativen Aufwand. Handlungsbedarf besteht zudem bei den teilweise erhöhten Wartezeiten, insbesondere in der Psychiatrie.
Wie gestaltet sich das Arbeitsumfeld der Ärzteschaft vor dem Hintergrund von drei Jahren Corona-Pandemie? Und wie steht es um die Versorgungsqualität? Diese und weitere Fragen untersuchte das Forschungsinstitut gfs.bern im Rahmen ihrer jährlich durchgeführten repräsentativen Befragung der Ärzteschaft im Auftrag der FMH. An der aktuellen Erhebung, die von Anfang Mai bis Mitte Juni 2022 stattfand, haben insgesamt 1547 Ärztinnen und Ärzte teilgenommen.

Hohe Qualität trotz Pandemie

Wie bereits in früheren Jahren bewertet die Spitalärzteschaft in der Akutsomatik die Versorgungsqualität in ihrem unmittelbaren Arbeitsbereich auch im Jahr 2022 überwiegend (86%) als sehr oder eher gut. In der Rehabilitation sind es 89% und in der Psychiatrie 74%. Dies war während den verschiedenen Phasen der Corona-Pandemie nicht fundamental anders. Über drei Viertel der Spitalärztinnen und Spitalärzte in der Akutsomatik und in der Rehabilitation bewerteten die Versorgungsqualität in ihrem unmittelbaren Arbeitsbereich während des Lockdowns und der weiteren Coronawellen als sehr gut oder gut. In der Psychiatrie lag dieser Anteil im Lockdown auf gleich hohem Niveau, sank im weiteren Verlauf jedoch auf 68%. Die praxisambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte hingegen schätzten die Versorgungsqualität im Lockdown vorübergehend weniger gut ein: Nur knapp die Hälfte bewertete diese als gut oder sehr gut. Im weiteren Verlauf der Pandemie stieg dieser Anteil jedoch auf 75%. Zudem stimmt weiterhin eine überwiegende Mehrheit (88%) der Spitalärztinnen und Spitalärzte in der Akutsomatik der Aussage sehr oder eher zu, dass den Patientinnen und Patienten die besten Expertinnen und Experten, Präparate sowie Geräte zur Verfügung stehen. In der Psychiatrie und Rehabilitation sind es 69% respektive 72%. Etwas weniger gut als in den Vorjahren wurde hingegen die Verfügbarkeit von Spitalärztinnen und Spitalärzten auf der Abteilung eingeschätzt. Im Jahr 2022 finden in der Akutsomatik nur 55%, dass genügend Ärztinnen und Ärzte auf der Abteilung vorhanden sind, um eine optimale Behandlung gewährleisten zu können. In der Rehabilitation sind es 51% und in der Psychiatrie sogar nur 40%.

Wartezeiten zunehmend ein Problem

Ein aus Patientensicht zentraler Aspekt der Gesundheitsversorgung ist der rasche Zugang zu einer Behandlung. Bei den Wartezeiten sind jedoch markante Unterschiede festzustellen (vgl. Abb. 1). Fast die Hälfte der befragten Psychiaterinnen und Psychiater sowie ein Drittel der Spitalärzteschaft in der Akutsomatik gibt an, dass die Patientinnen und Patienten im Jahr 2021 für eine typische, planbare Behandlung im Durchschnitt länger als einen Monat warten mussten. Hingegen schätzen die Ärztinnen und Ärzte im praxisambulanten Bereich und in den Rehabilitationskliniken die Wartezeit für ihre Patientinnen und Patienten deutlich kürzer ein: Jeweils über ein Drittel geht von durchschnittlich 0 bis 2 Tagen aus, ein weiteres Viertel von 3 bis 7 Tagen.
Abbildung 1: Wartezeit zwischen Überweisung und Behandlung.
Vor allem in der Psychiatrie und in der Akutsomatik werden häufig längere Wartezeiten als vor der Pandemie beobachtet. So berichten 56% der Spitalärztinnen und Spitalärzte in der Psychiatrie und 40% in der Akutsomatik von längeren Wartezeiten als im Jahr 2019. Abgesehen von den direkt mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen könnten auch vermehrt frühe Spitalüberweisungen die Wartezeiten in den Psychiatriekliniken erhöht haben. Während 2019 28% der Befragten in der Psychiatrie angaben, dass die Überweisung aus dem Akutspital zu früh erfolgte, waren es 2022 bereits 41%. Im praxisambulanten Bereich geben 22% und in den Rehabilitationskliniken 26% der Befragten an, dass sich die Wartezeit im Vergleich zu 2019 erhöht hat.

Mehr von Stress betroffen

Es gibt weitere problematische Trends, die nicht zu vernachlässigen sind. Beispielsweise ist seit der ersten Befragung im Jahr 2011 vor allem bei den Spitalärztinnen und Spitalärzten in der Akutsomatik ein ansteigender Trend beim Thema Stress zu verzeichnen; über die Hälfte (53%) gibt an, im vergangenen Jahr meistens oder häufig Stress erlebt zu haben. Am bisher höchsten war dieser Anteil jedoch in der letztjährigen Befragung mitten in der Corona-Pandemie. Eine zunehmende Anzahl der Befragten hat ausserdem das Gefühl, das tägliche Arbeitspensum nicht mehr gemäss den medizinischen Anforderungen des Berufs meistern zu können. Solche Befunde sind auch deshalb von Bedeutung, weil die hohe Arbeitsbelastung sich langfristig negativ auf die Qualität der Patientenversorgung auswirken kann. Ein über die Jahre tendenziell wachsender Anteil der Spitalärztinnen und Spitalärzte – vor allem in der Psychiatrie (2022 waren es 51%) und in der Akutsomatik (44%) – sieht die Patientenversorgung meistens oder häufig durch die hohe Arbeitsbelastung oder den Zeitdruck beeinträchtigt.
An der Belastungsgrenze: Stress ist ein grosses Thema für immer mehr Ärztinnen und Ärzte.
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Pandemie erhöht Arbeitsbelastung

Mit der Pandemie hat sich die Arbeitsbelastung der Spitalärztinnen und Spitalärzte teilweise zusätzlich erhöht. Fast die Hälfte (47%) der Befragten in der Akutsomatik stimmt der Aussage sehr oder eher zu, dass sich ihre Arbeitsbelastung während der vierten und fünften Welle insgesamt stark erhöht hat. 29% leisteten in dieser Zeit denn auch ein höheres Arbeitspensum als sonst (Abb. 2). Ähnlich sieht es bei den Spitalärztinnen und Spitalärzten in der Psychiatrie und in der Rehabilitation aus. Die praxisambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte haben ihr Arbeitspensum im Zeitraum von der zweiten bis zur fünften Welle in einem vergleichbaren Ausmass erhöht. Dies, nachdem 60% von ihnen das Pensum während des Lockdowns reduziert hatten oder ihre Arbeit vorübergehend ganz einstellen mussten.
Abbildung 2: Arbeitspensum während der Corona-Pandemie.
Angesichts der hohen Arbeitsbelastung ist es umso erfreulicher, dass die Spitalärztinnen und Spitalärzte die Zusammenarbeit zwischen der eigenen akutsomatischen Spitalstation und den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten als so gut beurteilen wie nie zuvor seit Befragungsbeginn im Jahr 2011: 78% der Befragten beurteilen diese Zusammenarbeit im Jahr 2022 als sehr gut oder gut.

Administrativer Aufwand steigt

Eine hohe Belastung stellt für die Ärztinnen und Ärzte der seit Jahren steigende administrative Aufwand dar. Zwar ging die ärztliche Dokumentationsarbeit (Patientendossier) in der Akutsomatik zwischen 2021 und 2022 etwas zurück, nämlich von 122 Minuten pro Tag auf 111 (Abb. 3). Diese vermeintlich erfreuliche Entwicklung wird jedoch dadurch zunichte gemacht, dass im gleichen Zeitraum der Aufwand für sonstige administrative Tätigkeiten von durchschnittlich 27 auf 40 Minuten pro Tag gestiegen ist und der Aufwand für andere organisatorische Arbeiten sowie die Korrespondenz ohne Bezug zur Patiententätigkeit von 38 auf 49 Minuten. Insgesamt hat der administrative Aufwand also weiter zugenommen. Eine ähnliche Entwicklung ist in der Psychiatrie festzustellen. In der Rehabilitation ist der durchschnittliche Aufwand für die ärztliche Dokumentationsarbeit inzwischen auf durchschnittlich 125 Minuten pro Tag angestiegen. Ein wichtiger Grund hierfür dürfte die in diesem Jahr erfolgte Einführung des neuen Tarifsystems ST Reha in der stationären Rehabilitation sein.
Abbildung 3: Zeitaufwand «ärztliche Dokumentationsarbeit/Patientendossier».

ST Reha muss sich noch bewähren

Gefragt nach ihrer Einstellung zur Einführung von ST Reha, äussert sich ein Viertel der Spitalärztinnen und Spitalärzte in der Rehabilitation als klar oder eher zustimmend und rund ein Viertel als klar oder eher ablehnend. Ein gutes Drittel vertritt eine neutrale Position. Dies entspricht einer deutlich wohlwollenderen Einstellung als bei der damaligen Einführung von SwissDRG und von TARPSY. Damit das jetzt noch bestehende Vertrauen nicht verspielt wird, ist eine Einigung zwischen den Leistungserbringern und den Kostenträgern bezüglich offener Fragen bei der Weiterentwicklung von ST Reha wichtig. Zu nennen ist hier insbesondere die Ablösung der behelfsmässigen Analogiekodierung als Voraussetzung für eine leistungsgerechte Vergütung [1]. Mit ST Reha soll mehr Transparenz bei der Behandlung und ein stärkerer Leistungsbezug bei der Vergütung erreicht werden. Von den befragten Spitalärztinnen und Spitalärzten aus dem Rehabilitationsbereich sind 26% der Meinung, dass das aktuelle Tarifsystem (also ST Reha) einen eher positiven Einfluss auf die Transparenz der Behandlung hat (Abb. 4). Einen eher negativen Einfluss nehmen demgegenüber 15% wahr. Bei allen anderen abgefragten Aspekten ist der Anteil der Befragten, die von einem eher negativen Einfluss des Tarifsystems ausgehen, deutlich grösser als der Anteil der Befragten mit einer eher positiven Wahrnehmung. Am grössten fallen die Negativanteile hinsichtlich der allgemeinen Arbeitsbedingungen (47%), der Patientenzufriedenheit (47%), der Kooperation mit den Krankenkassen (45%), der Therapiefreiheit (43%) und der Qualität (40%) aus. Gerade mit Blick auf die Therapiefreiheit gilt es sicherzustellen, dass auch in Zukunft die Ärztin respektive der Arzt und nicht der Tarif die adäquate Rehabilitationsbehandlung definiert.
Abbildung 4: Einfluss von ST Reha.

Qualität langfristig gewährleisten

In der Einschätzung der Ärzteschaft ist die Versorgungsqualität trotz drei Jahren Corona-Pandemie weiterhin gut. Es gibt jedoch Verbesserungspotenzial wie beispielsweise hinsichtlich der Wartezeiten, insbesondere in der Psychiatrie, aber auch in der Akutsomatik. In den Trendbetrachtungen zeichnen sich zudem Entwicklungen ab, die sich langfristig zunehmend negativ auf die Qualität auswirken könnten und deshalb nicht vernachlässigt werden dürfen. Hierzu zählen beispielsweise wachsender Stress und administrativer Aufwand. Es gilt diesen Anzeichen frühzeitig Beachtung zu schenken und Gegensteuer zu geben. Letztlich sind es gut ausgebildete und motivierte Ärztinnen und Ärzte, die zusammen mit einer hochwertigen Infrastruktur den entscheidenden Faktor für den Erfolg einer medizinischen Behandlung ausmachen.

Weitere Resultate

Weitere Informationen zur diesjährigen Befragung der Ärzteschaft durch gfs.bern im Auftrag der FMH finden sich unter www.fmh.ch → Themen → Stationäre Tarife → Begleitforschung (www.fmh.ch/themen/stationaere-tarife/begleitforschung.cfm). Dort sind auch zusätzliche Resultate zum Arbeitsumfeld und den Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit in der Schweiz verfügbar.
1 B. Trezzini, B. Meyer 2021: ST Reha 1.0: Das neue Tarifsystem der stationären Rehabilitation. Schweizerische Ärztezeitung 102(17):563-566.