Jagd auf Bakterien

Hintergrund
Ausgabe
2022/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21202
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(46):16-20

Publiziert am 16.11.2022

ForschungResistente Bakterien beschäftigen die ganze Welt: Antibiotika wirken immer öfter nicht mehr so, wie sie eigentlich sollten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchen nun im Rahmen eines nationalen Forschungsschwerpunkts nach neuen Antibiotika und Behandlungsmethoden – mit einem patientenzentrierten Ansatz.
Sir Alexander Fleming hat es doch gewusst. Im Jahr 1945 sagte der Bakteriologe: «Mr. X. hat Halsweh. Er kauft Penicillin und nimmt es ein, nicht genug, um die Streptokokken zu töten, aber genug, um ihnen beizubringen, resistent gegen Penicillin zu werden.» Gerade hatte Fleming den Nobelpreis für seine Entdeckung des Antibiotikums Penicillin erhalten. In seiner Rede bei der Preisverleihung warnte er die Menschen davor, was passieren kann, wenn sie nicht sorgsam genug mit Antibiotika umgehen. Er fuhr fort: «Dann infiziert er seine Frau. Mrs. X. bekommt eine Pneumonie und wird mit Penicillin behandelt. Weil die Streptokokken nun resistent gegen Antibiotika sind, schlägt die Therapie fehl. Mrs. X. stirbt.» [1]
Seit Flemings Schreckensszenario ist längst nicht nur die fiktive Mrs. X. gestorben.
Infektion eines menschlichen Bronchial-Organoidgewebes (Zellkontakte in violett eingefärbt) mit dem Keim Pseudomonas aeruginosa.
© Dr. Benoit-Joseph Laventie, Biozentrum, Universität Basel.

Weltweites Resistenzproblem

1,27 Millionen Tote. Innerhalb eines Jahres. Weil Antibiotika nicht mehr so wirken, wie sie sollten. Das ist die Bilanz der in diesem Jahr veröffentlichten Studie «Global burden of bacterial antimicrobial resistance in 2019: a systematic analysis» [2]. Zum ersten Mal haben darin Forschende Daten zur Antibiotikaresistenz und ihren Folgen weltweit erhoben und analysiert.
Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO hat das Resistenzproblem längst erkannt. Als Hauptgründe nennt sie den unsachgemässen und übermässigen Einsatz von Antibiotika. Die Organisation zählt die antimikrobielle Resistenz zu den zehn grössten weltweiten Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit [3].
Auch die Infektiologin und Spitalhygienikerin Prof. Dr. med. Nina Khanna am Universitätsspital Basel ist regelmässig mit resistenten oder multiresistenten Erregern konfrontiert. Und sie erlebt auch immer wieder Therapieversagen, das nicht nur durch Resistenzbildung zustande kommt, sondern weil die Bakterien trotz passenden Antibiotikums nicht eliminiert werden.
Wie viele Menschen pro Jahr aufgrund von antibiotikaresistenten Erregern in der Schweiz sterben? Das kann sie nicht beantworten und sagt: «Genaue Zahlen werden nicht erhoben.» Sicher ist, im internationalen Vergleich steht die Schweiz gut da. Hierzulande werden weniger Antibiotika verordnet als es im europäischen Durchschnitt der Fall ist [4], und das Vorkommen resistenter Keime ist vergleichsweise geringer [2]. Dennoch: Das Problem ist global, die Entwicklung ist besorgniserregend und auch in der Schweiz sterben deswegen Menschen.

Was Schweizer Forschende vorhaben

Als Alexander Fleming im Jahr 1928 Penicillin entdeckte, war das ein Meilenstein in der Geschichte der Medizin. Nun braucht es einen neuen Meilenstein, damit bakterielle Infektionen wieder wirkungsvoller behandelt werden können. Daran arbeitet Christoph Dehio, Professor am Biozentrum der Universität Basel, Infektionsbiologe und Direktor des nationalen Forschungsschwerpunkts «Neue Ansätze zur Bekämpfung Antibiotika-resistenter Bakterien» (NCCR Anti Resist) [5]. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen bündeln darin ihre Kompetenzen. Dazu zählen die Biologie, Ingenieurswissenschaften, Chemie, Computerwissenschaften – und nicht zuletzt die klinisch-translationelle Forschung unter der Leitung von Nina Khanna.
Die Forschenden wollen die weltweite Antibiotikaresistenz-Krise bekämpfen, indem sie neue Antibiotika finden und innovative Behandlungsmethoden etablieren. Ein ehrgeiziges Ziel, wenn man bedenkt, dass immer weniger neue Antibiotika entdeckt werden. Die WHO kommentiert dazu: «Die klinische Pipeline neuer antimikrobieller Mittel ist trocken.» [3] Wie die Forschung nun neue Innovationskraft erhalten soll? Durch nichts weniger als einen Paradigmenwechsel.

In-vitro-Forschung neu denken

Seit Fleming basiert die Entdeckung von Antibiotika nämlich vor allem auf weitgehend artifiziellen in-vitro-Versuchen. In einer Petrischale unter Bedingungen, die wenig mit denen im menschlichen Körper zu tun haben, entdeckte der Nobelpreisträger zufällig die antibiotische Wirkung von Penicillin, als er Staphylokokken untersuchte.
Aber Christoph Dehio gibt zu bedenken: «Dieser Ansatz kann dazu führen, dass wirksame Medikamente übersehen werden, die unter diesen künstlichen in-vitro-Bedingungen nur eine schwache Aktivität zeigen.» Als Beispiel nennt er die Entwicklung des Antibiotikums Cefiderocol [6]: «In vitro ist es kaum wirksam, weil das Standardmedium zu reich an Eisen ist», sagt er und ergänzt: «Im menschlichen Körper wirkt dieses Antibiotikum aber sehr gut, weil dort Eisenmangel herrscht und es über bakterielle Eisen-Anreicherungssysteme aufgenommen wird.» Erst nach Entfernung von Eisen im Standardmedium wirke es auch in vitro.

NCCR Anti Resist

Die zentrale Leitung und Verwaltung des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NCCR) «Neue Ansätze zur Bekämpfung Antibiotika-resistenter Bakterien» (Anti Resist) ist am Biozentrum der Universität Basel angesiedelt. Zum Netzwerk gehören Forschende der Universität Basel, des Universitätsspitals Basel, der ETH Zürich, der EPFL Lausanne, der Universität Zürich, des Universitätsspitals Zürich, der Universität Lausanne und der Ben-Gurion Universität in Beer-Sheva, Israel. Weitere Informationen unter www.nccr-antiresist.ch
Bei Cefiderocol, so erklärt Dehio, haben die Forschenden von vornherein gewusst, dass sie das Standardmedium anpassen müssen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Was aber wäre, wenn die Bedingungen im Labor von Anfang an denen im menschlichen Körper stärker ähneln würden als es bisher der Fall ist? Christoph Dehio ist überzeugt, dass es dann gelingen sollte, völlig neuartige Antibiotika und Behandlungsmethoden zu finden.
Christoph Dehio ist Direktor des NCCR Anti Resist «Neue Ansätze zur Bekämpfung Antibiotikaresistenter Bakterien».
Deshalb proklamiert er einen Paradigmenwechsel hin zur patientenzentrierten Forschung. Gemeinsam mit den anderen Forschenden des NCCR Anti Resist will er so genau wie möglich verstehen, unter welchen Bedingungen sich Krankheitserreger im menschlichen Körper ausbreiten. «Wir sammeln zunächst Patientenproben, um zu verstehen, was bei einer Infektion passiert», erklärt er. Nina Khanna, die mit ihrem Team zu diesem Zweck die Proben sammelt, fügt hinzu: «Wir schauen uns mit Hilfe der Proben die Umgebung der Infektionen genau an. Wir wollen wissen, welche Zellen involviert sind und ob sie die Bakterien zum Beispiel beherbergen, ob die Krankheitserreger also intrazellulär vorliegen.» Zudem, so erklärt sie, untersuchen die Forschenden unter anderem, ob ein Medikament in ausreichendem Mass zum Erreger gelangt. Tut es das nicht, kann das zu einem Therapieversagen führen, obwohl das Antibiotikum prinzipiell wirksam ist.

Forschung in vier Phasen

Der patientenzentrierte Ansatz soll also helfen, bisher unbekannte Antibiotika zu entdecken und andere, wirksamere Behandlungsmethoden zu finden. Seit 2020 arbeiten Nina Khanna, Christoph Dehio und die weiteren Forschenden daran. Es ist ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Vorhaben, das zwölf Jahre dauerndes Vorhaben, das drei Phasen von je vier Jahren umfasst:
Phase eins läuft seit 2020. Der Fokus liegt darauf, Patientenproben mit den vier zu untersuchenden Krankheitserregern zu sammeln und zu analysieren: Escherichia coli, Pseudomonas aruginosa, Staphylococcus aureus und Brucella melitensis (siehe Kasten). Mit Hilfe der gewonnenen Daten sollen dann Labormodelle entwickelt werden, die die Bedingungen im menschlichen Körper nachahmen.

World Antimicrobial Awareness Week

Vom 18. bis 24.11.2022 findet die World Antimicrobial Awareness Week statt. Die globale Kampagne will das Bewusstsein und das Verständnis für antimikrobielle Resistenzen stärken. Weitere Informationen unter www.who.int/campaigns/world-antimicrobial-awareness-week
In Phase zwei werden die entwickelten Labormodelle verwendet, um neue Wirksubstanzen und alternative Behandlungsmethoden zu entwickeln.
In Phase drei wollen die Forschenden damit beginnen, die neuen Entwicklungen und Konzepte in die Praxis zu übertragen.
Derzeit befindet sich das Team mitten in Phase eins. In manchen Bereichen sei es aufgrund der Pandemie zu Verzögerungen bei der Sammlung von Patientenproben gekommen. «Wir sind dran und werden multizentrisch, um mehr Proben zu bekommen», sagt Nina Khanna, die die Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Zürich in die Wege leitet, um mehr Proben zu bekommen.

Die Ziele der Forschenden

PD Dr. med. Anna Conen, Infektiologin am Kantonsspital Aarau, beobachtet die Forschung mit Interesse. «Aufgrund der rasch zunehmenden Resistenzentwicklung von Bakterien gegenüber Antibiotika hoffe ich auf die schnelle Entwicklung neuer Antibiotikatherapien und Substanzklassen, aber auch auf innovative Therapieansätze bei der Behandlung von bakteriellen Infektionskrankheiten», sagt sie über den NCCR Anti Resist. Den patientenzentrierten Ansatz hält sie für richtig: «Denn das Faszinierende an Bakterien ist, dass der Übergang von Kolonisation, Infektion und Krankheit fliessend ist», erklärt sie und ergänzt: «Was sind die Faktoren, die diese Übergänge begünstigen oder stattfinden lassen und wie können wir sie verhindern?» Wir müssen, davon ist sie überzeugt, vermehrt schauen, was mit Bakterien in Patientinnen und Patienten bis auf die molekulare Ebene hin geschieht.
Mit den Erkenntnissen aus der Analyse der Patientenproben wollen die Forschenden die in-vitro-Forschung grundlegend verändern, aber nicht unnötig verkomplizieren. Sie setzen bewusst auf «einen Reigen an Labormodellen», wie Christoph Dehio sagt. «Was wir durch die Erforschung des Patientenmaterials lernen, übersetzen wir in Modelle, die jeweils nur die relevanten Aspekte abbilden», erklärt er. Das bedeutet: Für komplexe Fragestellungen können das Organoide sein, also künstlich erzeugte, organähnliche Strukturen. Solche Modelle könnten etwa helfen zu verstehen, welche negativen Effekte ein wirksames Medikament auf den menschlichen Organismus haben kann. Für andere Fragestellungen reicht es laut dem Infektionsbiologen, das Nährmedium anzupassen. Statt dem Standardmedium könne man zum Beispiel künstlich erzeugten Urin verwenden, um die Bedingungen im menschlichen Körper während einer bakteriellen Harnwegsinfektion zu imitieren.
Nina Khanna ist Infektiologin und Spitalhygienikerin am Universitätsspital Basel und leitet die klinisch-translationelle Forschung beim NCCR Anti Resist.
© https://www.youtube.com/watch?v=NpeQwlZW33M
Ob Christoph Dehio, Nina Khanna und die weiteren Forschenden es schaffen werden, den Paradigmenwechsel innerhalb von zwölf Jahren herbeizuführen? Christoph Dehio kann und will nichts versprechen, aber er sagt: «Der Zeitraum sollte ausreichen, um den Impuls zu setzen, erste neue Wirkprinzipien auf den Weg zu bringen.» Nina Khanna erklärt: «Wenn wir mit unserem neuen Ansatz eine interessante Substanz finden, wäre das Ziel, sie in einer prospektiven Studie an Patientinnen und Patienten zu testen. Ich hoffe, dass wir dahin kommen werden.» Und Anna Conen, die Beobachterin von aussen, fügt hinzu: «Eins kann ich mit Sicherheit sagen. Genau wegen solcher Forschung hat sich die Medizin in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert.»

Austausch mit der Industrie

Doch wie erfolgreich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch sein werden, eine Herausforderung bleibt: Die Industrie muss sich letztlich dafür interessieren, die neuen Ansätze aufzunehmen und die Erforschung neuer Wirkmechanismen auch nach Abschluss des Forschungsschwerpunkts weiter voranzutreiben. Aus diesem Grund denken die Forschenden schon jetzt an das Thema Translation und fördern den Austausch mit der Industrie [7].
Ein wichtiger Punkt, denn die Pipeline an neuen Antibiotika ist nicht nur deshalb trocken, weil sich der bisherige Forschungsansatz totgelaufen hat. Die Industrie interessiert sich derzeit einfach zu wenig für das Feld. Es ist schlicht nicht lohnend genug [8]. Dass Antibiotika nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit der Industrie haben, war übrigens schon zu Flemings Zeiten so. Erst zwölf Jahre nach seiner Entdeckung – in Kriegszeiten, als die Menschen besonders verwundbar waren – interessierten sich zwei Chemiker für sein Penicillin. Die Geschichte der Antibiotika konnte endlich beginnen. Nun könnte sie ein neues Kapitel bekommen.

Vier Krankheitserreger im Fokus

Beim nationalen Forschungsschwerpunkt Anti Resist werden vier bakterielle Pathogene untersucht:
Escherichia coli: Das gramnegatives Bakterium kommt häufig im menschlichen Darm vor. Die meisten E. coli-Stämme sind harmlos, aber zahlreiche pathogene Varianten verursachen schwere Infektionen ausserhalb des Darms, darunter Harnwegsinfektionen, Lebensmittelvergiftungen, septischer Schock oder Meningitis. Antibiotikaresistente E. coli treten immer häufiger auf, wobei die Weltgesundheitsorganisation Carbapenem-resistente Stämme als höchste Priorität für die Forschung und Entwicklung neuer Antibiotika einstuft.
Pseudomonas aeruginosa: Das gramnegative Humanpathogen wird häufig bei lebensbedrohlichen Krankenhausinfektionen isoliert, darunter Lungenentzündungen, Septikämien, Verbrennungen und Wundinfektionen. Akute und chronische Infektionen sind mit einer hohen Sterblichkeitsrate verbunden, immungeschwächte Menschen und Patienten mit Mukoviszidose (CF) sind besonders gefährdet. Aufgrund seiner intrinsischen Resistenz gegen viele Antibiotika und der zunehmenden Resistenz gegen alle anderen verfügbaren Antibiotika ist Pseudomonas aeruginosa zu einer grossen Bedrohung für die menschliche Gesundheit geworden. Besonders Carbapenem-resistente Stämme wurden von der WHO als kritische Krankheitserreger eingestuft.
Staphylococcus aureus: Das grampositive Bakterium gehört zu den häufigsten Erregern bakterieller Infektionen beim Menschen. Der Erreger verursacht Lungenentzündungen, Blutvergiftungen, Hautinfekte und tief liegende Infektionen wie Weichteilinfekte, Gelenk-, Knochen- und Herzklappeninfektionen. Tief liegende Infektionen stellen auch ohne Resistenz eine grosse Herausforderung dar und sind schwierig zu behandeln. Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus (MRSA) war zunächst ein Problem bei Spitalinfektionen, die Rate ging aber von 13% im Jahr 2004 auf 5% im Jahr 2021 zurück. Im ambulanten Bereich nahm die MRSA-Rate jedoch leicht zu, weshalb MRSA heute nicht mehr nur ein Problem der Spitalmedizin ist. Laut der Studie «Global burden of antimicrobial resistance in 2019» war der MRSA die einzige Erreger-Wirkstoff-Kombination der Analyse, bei der weltweit mehr als 100 000 Todesfälle auf eine Resistenz zurückzuführen waren.
Brucella melitensis: Der gramnegative Zoonoseerreger verursacht beim Menschen durch Kontakt mit infizierten Tieren oder Nahrungsmitteln Brucellose, meist eine chronische Krankheit mit den Allgemeinzustand schwächendem Verlauf und verschiedenen möglichen infektiösen Streuherden (Gelenks- oder Wirbelsäuleninfektionen, Meningitis und so weiter). Trotz lange dauernder antibiotischer Kombinationstherapie kommt es häufig zu Therapieversagen (5-15%), die zur Morbidität beitragen. Die Erkrankung ist in bestimmten Regionen der Welt endemisch, etwa in Südeuropa und im Nahen Osten.
Quellen: nccr-antiresist.ch, anresis.ch, who.int, www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02724-0/fulltext