«Wir brauchen täglich frische Blutspenden»

Wissen
Ausgabe
2022/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21240
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(48):74-75

Publiziert am 30.11.2022

Blutreserven Noch ist die schweizweite Situation entspannter als 2014. Trotzdem haben in diesem Sommer mehrere Spitäler zur Blutspende aufgerufen. Soraya Amar, Medizinische Direktorin des Blutspendedienstes beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK), spricht über die aktuelle Lage und erklärt, warum bei drohender Knappheit frühzeitig interveniert werden muss.
Soraya Amar, derzeit liegen wir schweizweit im grünen Bereich, während es im Sommer sehr kritisch aussah. Wie ist das zu erklären?
Die Blutspendedienste rufen vor und während der Sommerferien mit speziellen Aktionen zur Blutspende auf, um Reserven aufzubauen; das gehört zum üblichen Management. Grund dafür ist, dass die Spenderinnen und Spender in der Ferienzeit deutlich schlechter erreichbar sind. Dank der guten Resonanz auf die Spendenaufrufe und der Zusammenarbeit zwischen den regionalen Blutspendediensten (RBSD) der Schweiz hat sich die Situation wieder normalisiert. Die Blutreserven konnten rasch aufgestockt werden.
Dennoch scheinen die Reserven bei bestimmten Blutgruppen niedriger zu sein. Könnten Sie darauf näher eingehen?
Gegenwärtig ist der Bestand lediglich für die Gruppe 0 negativ in drei RBSD kritisch. Dieser regionale Rückgang ist vor allem auf die Herbstferien zurückzuführen. Die Ferienzeiten korrelieren jedes Jahr mit einem – wenn auch nicht immer kritischen – Rückgang der Bestände an Spenderblut im Allgemeinen und der Blutgruppe 0 RhD negativ im Besonderen. Nur 6% der Bevölkerung in der Schweiz gehören dieser Blutgruppe an. Diese Personen bezeichnet man im allgemeinen Sprachgebrauch als Universalspender, aufgrund der Erythrozytenkompatibilität dieser Blutgruppe mit den Blutgruppen A, B, AB und Rhesus D.
Hat das SRK mit Blick auf Engpässe eine vorausgreifende Strategie? Wenn ja, worin besteht diese?
Wir verfügen über ein nationales System zur Erfassung und täglichen Überwachung der Bestände an Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentraten. Dieses System ermöglicht es uns im Normalfall, vor Eintritt einer schweizweiten Knappheit zu reagieren. Setzt sich der Abwärtstrend in der ganzen Schweiz über mehrere aufeinanderfolgende Tage fort, wird im Dialog mit den regionalen Blutspendezentren die Entwicklung der Situation beurteilt. Wenn die Regionen grossangelegte Blutspendeaktionen planen und die Aussichten auf eine Normalisierung dank regionaler Mobilisierung gut bleiben, greifen wir nicht auf Rekrutierungskampagnen im Sinne einer massiven nationalen Mobilisierung zurück. Eine solche erweist sich zwar bisweilen als notwendig, wird jedoch nur als letztes Mittel eingesetzt, denn ein unkontrolliertes Blutspendenaufkommen gilt es zu vermeiden. Darunter würde nicht nur der Komfort von Spendenden und Personal leiden, sondern es würden sich auch zu grosse Bestände anhäufen und als Folge eine steigende Anzahl abgelaufener Produkte. Die RBSD können sich jedoch sehr schnell entsprechend organisieren und verfügen über digitale Terminvergabesysteme, die eine bessere Steuerung des Aufkommens ermöglichen.
Was können Gesundheitsfachpersonen generell bei kritischer Blutkonservenknappheit tun?
In der Schweiz werden täglich rund 700 Blutspenden benötigt. Angesichts der kurzen Haltbarkeit von Blutprodukten sind wir täglich auf frische Blutspenden angewiesen. Aktuell ist die Versorgungslage in der Schweiz gut. Die letzte Knappheit, die eine nationale Mobilisierung erforderte, hatten wir im Jahr 2014. Sollte sich dies wiederholen, können Gesundheitsfachpersonen einfach die Best Practices bei der Verschreibung von Blutprodukten und bei der medizinischen Indikationsstellung anwenden und auf ein personalisiertes Blutmanagement achten.
Gibt es einen interkantonalen Austausch, wenn die Bestände erschöpft sind?
Selbstverständlich. Die elf regionalen Blutspendedienste verfügen über eine gemeinsame IT-Plattform, die es allen ermöglicht, jederzeit die für jede Blutgruppe verfügbaren Mengen einzusehen und Blut bei einem anderen RBSD, der über ausreichende Bestände verfügt, anzufordern.
Wie sieht die Lage in Europa und weltweit aus?
Europaweit ist die Nachfrage nach Blutprodukten in den letzten 15 Jahren zurückgegangen. Das hat vielfältige Gründe, etwa die Fortschritte bei nichtinvasiven Operationstechniken und Techniken der intraoperativen Blutrückgewinnung oder die präoperative Anämiekorrektur, um nur ein paar zu nennen. Ausserdem ist die Zahl der Verkehrsunfälle, die Massivtransfusionen erfordern, erfreulicherweise zurückgegangen. Die effiziente präklinische Behandlung massiver Hämorrhagien sowie die Umsetzung zahlreicher Anwendungsempfehlungen spielen ebenfalls eine Rolle. Sie ermöglichen die schrittweise Implementierung eines personalisierten Blutmanagements (Anmerkung der Redaktion: Patient Blood Management). Seit zwei Jahren ist in der Schweiz und in Europa eine Stabilisierung der Nachfrage nach Blutprodukten zu beobachten.
Dagegen übersteigt in Ländern mit mittleren und niedrigen Ressourcen die Nachfrage nach Blut die Beschaffungsmengen bei weitem, sodass permanent Knappheit besteht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation werden in Ländern mit hohem Einkommen 31,5 Blutspenden pro 1000 Einwohner registriert, in Ländern mit oberem mittlerem Einkommen 16,4, in Ländern mit unterem mittlerem Einkommen 6,6 und in Ländern mit niedrigem Einkommen 5,0.
Können in der Präventionspolitik Strategien zum Einsparen von Blut entwickelt werden?
Aufseiten der Spitäler wäre es sinnvoll, in enger Zusammenarbeit mit den Blutspendediensten innovative Bestandsverwaltungssysteme einzuführen. In mehreren Ländern hat man Supply-Chain-Managementsysteme getestet, die es den Gliedern der Versorgungskette ermöglichen, besser miteinander zu kommunizieren und die Produkte im Allgemeinen und bestimmte phänotypisierte Produkte im Besonderen besser zu verwalten. Ein solches System würde es den RBSD ermöglichen, ein im Bestand eines Spitals noch verfügbares kompatibles Produkt zu lokalisieren und damit unnötige Transporte zu vermeiden. Die Patientin oder der Patient könnte so schnellstmöglich von der Transfusion profitieren. Ausserdem liessen sich auf diese Weise die kontrollierte Rückgabe der Blutprodukte vor Ablauf ihrer Haltbarkeit und die Verteilung an andere RBSD im Falle einer Knappheit gewährleisten. Ziel ist letztendlich, eine grosse Anzahl von Spendenden zu erreichen, die weniger spenden, aber eine Vielzahl von Bluttypen liefern, um so einer blutgruppenspezifischen Knappheit zuvorzukommen.
Dr. med. Soraya Amar
Medizinische Direktorin des Blutspendedienstes beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK), ehemalige Leiterin des regionalen Blutspendedienstes Genf
In der Schweiz werden täglich rund 700 Blutspenden benötigt.
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