Warum haben Sie Angst vor mir?

Hintergrund
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21255
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(4950):16-19

Publiziert am 07.12.2022

Arztangst Manche Patientinnen und Patienten vermeiden Arztbesuche aus Angst oder sie sitzen voller Furcht im Behandlungszimmer. Wie können Ärztinnen und Ärzte merken, was los ist und richtig reagieren? Eine Annäherung an ein oft schambesetztes Thema.
Die wohl bekannteste und am offensten thematisierte Arztangst ist die Angst vor der Zahnärztin, dem Zahnarzt. Manche zahnmedizinische Praxen bieten eine spezialisierte Betreuung an, bis hin zu ablenkenden Videos und Behandlungen unter Hypnose. Doch auch in anderen Bereichen haben Ärztinnen und Ärzte mit Ängsten von Patientinnen und Patienten zu tun. Michael Kostrzewa, Facharzt für Radiologie, leitet am Kantonsspital Baden die interventionelle Radiologie. Dabei erfolgen bildgesteuerte Eingriffe, beispielsweise Gewebeentnahmen, Behandlungen von Gefässerkrankungen oder minimalinvasive Therapien von Tumoren. Häufig handle es sich um ambulante Eingriffe, erklärt Kostrzewa, meist nur unter örtlicher Betäubung, manchmal im Dämmerschlaf der Analgosedierung.
Eine Arztphobie kann durch vergangene negative Erlebnisse verursacht werden, selbst Schilderungen von Dritten können eine Angstspirale auslösen.
© Josh Hild / Unsplash
Die meisten Verfahren der interventionellen Radiologie sind nadelbasiert. Zum Grauen vor der Nadel komme die Furcht vor Schmerzen, dies alles in der ungewohnten Spitalumgebung, weiss der leitende Arzt: «Viele Patienten fragen mich daher, ob sie den Eingriff unter Vollnarkose machen könnten.» In den meisten Fällen sei dies aber nicht nötig, zudem unterschätzten die Leute die mit der Narkose verbundenen Risiken. Kostrzewa versteht sich inzwischen gut darauf, auf Ängste von Patientinnen und Patienten einzugehen. Auch aus eigenem Interesse, wie er sagt: «Weil der Patient während des Eingriffs wach ist, sind wir auf seine Kooperation angewiesen.» Sonst komme es zu Problemen.

Erklären und Sicherheit vermitteln

Angst entstehe vor allem dann, wenn Menschen etwas nicht verstünden, stellt Kostrzewa fest. Was die interventionelle Radiologie tue, sei für viele anfänglich abstrakt. Deshalb erklärt er die Vorgänge ausnahmslos gründlich. Denn während er als Arzt jeden Tag herkomme und seine Arbeit mache, sei die Situation für die Menschen auf der Liege alles andere als normal. Der Facharzt führt sie durch den Eingriff und vermittelt Sicherheit und Nähe. Er zeigt Interesse am Menschen, erkundigt sich etwa nach dem Enkelkind und bringt selber Privates ein: «So bin ich nicht nur der Arzt im weissen Kittel.» Nach seiner Erfahrung hilft dies, Ängste zu reduzieren. Michael Kostrzewa kann Ängste auch deshalb gut verstehen, weil er sie selber kennt. Er hat Angst vor offenen Gewässern, seit der Kindheit schon.
Die Angst sei irrational, er habe nie etwas Schlimmes erlebt, sagt er. Und doch: «Allein im See zu kraulen und dabei in die dunkle Tiefe zu blicken – das kann ich mir nicht vorstellen.» Interessanterweise geht es aber in der Gruppe. Das merkte Kostrzewa bei den Triathlon-Wettkämpfen, an denen er früher teilnahm. Andere Menschen um sich zu wissen, gab ihm Sicherheit. Dieses Prinzip wendet er heute im Umgang mit seinen Patientinnen und Patienten an. Häufig klappe es gut, sie in die Behandlung zu involvieren: «Ich sage zu ihnen: Wir machen das jetzt zusammen.» Kostrzewa sieht Medizin grundsätzlich als Teamarbeit, und die Patientin, der Patient sei Teil dieses Teams. Gemeinsam werde dann auf ein gutes Ergebnis hingewirkt. Häufig seien die Patienten am Schluss überrascht, dass der Eingriff schon vorbei sei: «Sie stellen dann fest, dass ihre Ängste unbegründet waren.»

Einschränkung macht den Unterschied

Ängstliche Anspannung vor gewissen Behandlungen oder dem Gang zum Arzt ist nichts Ungewöhnliches. Doch manchmal ist die Angst übersteigert, dann kann eine Arztphobie vorliegen. Allgemein haben Angststörungen dann Diagnosewert, wenn die Angst den Alltag einschränkt. Das sagt Annette Brühl, Chefärztin bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression SGAD. Sie verdeutlicht es am Beispiel der Spinnenphobie, einer spezifischen Angststörung. Wer sich vor Spinnen grusle und deswegen ungern in den Keller gehe, habe etwas Spinnenangst, aber noch keine Phobie: «Anders ist es, wenn jemand wegen der Spinnen nie einen Keller betritt, selbst wenn es sein müsste.»
In diesem Fall sei der beeinträchtigende Effekt vorhanden und damit der phobische Charakter der Angst. Bezogen auf die Arztangst bedeutet dies: Eine Arztphobie liegt vor, wenn jemand einen nötigen Arztbesuch immer wieder hinauszögert oder vermeidet und dies negative Folgen hat. Betroffene verschleppen laut der Psychiaterin Krankheiten, ertragen Schmerzen oder behandeln sich selber. Wie zum Beispiel in einem ihr bekannten Fall, als sich ein Patient eigenhändig einen verfaulten Zahn zog, anstatt zur Zahnärztin zu gehen. Suchen sie dann doch einen Arzt auf, verspüren Betroffene ausgeprägte Angstgefühle und kämpfen mit Begleitsymptomen wie Schwindel. So wird ein alltäglicher Vorgang zum Riesenstress.

«Angst sieht man nicht»

Die Arztphobie wird auch Iatrophobie genannt, vom altgriechischen Wort «iatros» her für Arzt. Psychiaterin Brühl unterscheidet zwei Hauptängste dabei: Angst vor der Ärztin, dem Arzt und Angst davor, eine Erkrankung zu haben, die der Arzt finden könnte. «Beides kann dazu führen, dass die Leute nicht hingehen und somit Erkrankungen nicht oder erst spät behandelt werden.» Dies womöglich mit gravierenden gesundheitlichen Folgen. Aussagekräftige Zahlen, wie verbreitet die Arztphobie ist, gibt es laut der Expertin nicht. Insgesamt seien Angststörungen aber relativ häufig. Jede und jeder Dritte erlebt sie mindestens einmal im Leben, am häufigsten sind soziale Phobien. Eine Arztphobie könne durch negative Erlebnisse in der Vergangenheit verursacht sein, sagt Annette Brühl. Auch Schilderungen von Dritten, wie schlimm deren Erlebnis war, können eine Angstspirale auslösen oder verstärken.
Selber Beschwerden googeln und mit dem kleinen Hautfleck unweigerlich bei «todkrank» landen: Auch das kann Angst machen. Wer nun meint, die Angsterfüllten sässen knieschlotternd im Sprechzimmer, täuscht sich. «Angst sieht man nicht», unterstreicht die Psychiaterin. Man könne neben jemandem stehen, der gerade eine Panikattacke habe, und bekomme nichts mit. Weil sich zur Angst auch Scham geselle, verschweigen Betroffene oft ihre Situation. Die Fachärztin rät deshalb Kolleginnen und Kollegen, mögliche Ängste von sich aus anzusprechen. Patientinnen und Patienten sollten ermuntert werden, es zu äussern, wenn ihnen etwas Angst mache. Information und Aufklärung über die Vorgänge, in ruhigem Ton, seien zentral und minderten das häufige Gefühl des Kontrollverlustes.

Humor und Menschlichkeit

Vor allem beim Erstgespräch können genaue Erklärungen durch die Ärztin, den Arzt Unsicherheit und Zweifel abbauen, bestätigt Marlene Keller von der Angst- und Panikhilfe Schweiz APHS. Die APHS ist eine Selbsthilfeorganisation, an die sich Betroffene wenden können. Bei ihr meldeten sich auch schon Menschen mit grosser Angst vor einem Zahnarztbesuch und mit Spritzenphobie. Marlene Keller leitet die APHS-Hotline und kennt Angst und Panik aus eigener Erfahrung. «Mir hilft es am meisten, wenn mein Gegenüber Empathie und Geduld ausstrahlt und Interesse zeigt, meine Angst und die Begleitsymptome zu verstehen», sagt sie. Nicht alle könnten jedoch damit umgehen, auch Fachpersonen nicht.
Das Hotline-Team der Angst- und Panikhilfe hat für diesen Artikel in der Schweizerischen Ärztezeitung weitere Tipps aus Betroffenensicht zusammengetragen, die Ärztinnen und Ärzte beherzigen können. Dazu gehöre schon eine harmonische Einrichtung im Wartebereich, weil dies entspanne. Zudem solle «möglichst viel Normalität» in die Behandlung einfliessen, um vom medizinischen Teil ein wenig abzulenken. Zeige die Person im weissen Kittel ihre menschliche Seite und spreche allenfalls sogar eigene Ängste an, könne dies das Eis brechen. Falls die Ärztin, der Arzt nicht wisse, wie mit der Situation umzugehen sei, könne man die angstbetroffene Person fragen, was ihr helfen würde, oder was ihr schon mal geholfen habe. Entwaffnend wirke zudem eine Prise Humor, mit Gespür an der richtigen Stelle platziert.

Der weisse Kittel, der Spitalgeruch

Informationen von praktischem Wert liefert auch ein neues, eigens der Arztangst gewidmetes Portal: www.arztphobie.com. Initiant ist der deutsche Medizinjournalist Jörg Keller. Das ehrenamtlich und unabhängig betriebene Portal sei aus persönlicher Motivation entstanden, sagt er. Er habe Ängste und Scham beim Arztbesuch schon länger als Thema wahrgenommen und während der Pandemie Zeit gefunden, ein Infoportal dafür aufzubauen. «Wir möchten dazu beitragen, die Angst vor Ärzten und medizinischen Behandlungen zu überwinden», so Keller. Das Portal richtet sich zum einen an die Ärzteschaft, mit recherchierten Hinweisen, zum anderen an Betroffene. Geplant ist zudem eine Datenbank mit Ärztinnen und Ärzten, die besonders gut mit Angstpatienten umgehen können. Dabei sollen laut Keller auch Ärztinnen und Ärzte aus der Schweiz berücksichtigt werden.
Eine Arztphobie lässt sich psychotherapeutisch behandeln. Wie Psychiaterin Annette Brühl ausführt, wird zunächst geklärt, ob wirklich eine solche Phobie vorliegt, oder ob eine andere Angst die Leute am Gang zum Arzt, zur Ärztin hindere, etwa eine Sozialphobie. Danach wird mit der Patientin, dem Patienten eruiert, was genau die Arztangst hervorruft. Die Trigger seien individuell, sagt Brühl, vom weissen Kittel bis zum Geruch im Spital, der Erinnerungen an ein belastendes Erlebnis wecken könnte. Die Betroffenen erlernen schliesslich verhaltenstherapeutisch: Ich kann einen Arztbesuch ohne negative Erlebnisse durchstehen, und meine Angst nimmt nicht unendlich zu.

Zurückhaltend bei Angstlösern

Eher skeptisch sieht die Fachärztin den Einsatz von Benzodiazepinen, um Angstpatienten in Praxen oder Spitälern überhaupt behandeln oder untersuchen zu können. Zwar dämpfe dies die Angst vorübergehend, doch letztlich handle es sich ebenfalls um Vermeidung: «Das Problem dahinter bleibt ungelöst.» Mehr noch: Patientinnen und Patienten würden in ihrer Angst geradezu bestätigt, nach dem Motto «Das ist nur mit Beruhigungsmitteln zu ertragen.» Stattdessen sollten sie erleben, dass ein Arztbesuch keine Gefahr darstellt. Eine erste Brücke hin zur Ärztin, zum Arzt könne eine digitale Konsultation sein, fügt Brühl an. Doch danach sollte der Schritt in die Realität erfolgen.