Kann ich der Assistenzärztin oder dem Assistenzarzt vertrauen?

SIWF
Ausgabe
2022/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21342
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(5152):34-36

Affiliations
a Dr. med., PD und MHPE, PhD, Leitende Ärztin in der Allgemeinen Pädiatrie, Universitätsspital Genf (HUG); Fakultätsmitglied, Abteilung für Entwicklung und Forschung in der medizinischen Bildung (UDREM), Universität Genf, b Prof. med. und MME, Universität Freiburg, c Dr. med. und MERc, MME, Leitender Arzt, Abteilung für Innere Medizin, Waadtländer Universitätsspital (CHUV), Abteilung für Medizinische Hochschuldidaktik (UPMed), Universität Lausanne (UNIL)

Publiziert am 21.12.2022

Entrustable Professional Activities In der Schweiz wird das kompetenzbasierte Modell für die ärztliche Weiterbildung eingeführt. Welche Herausforderungen und Chancen beinhaltet das Modell, und wie kann die Selbstständigkeit von Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung eingeschätzt werden?
Sie supervidieren Lucy, eine Assistenzärztin im zweiten Jahr. Ihre Abteilung hat das auf «Entrustable Professional Activities» (EPA) basierende Weiterbildungsprogramm eingeführt. In diesem Zusammenhang bittet Lucy Sie, sie zu beobachten, während sie Frau Schroft, bei der eine pleurale Neoplasie festgestellt wurde, die Diagnose mitteilt. Nach Auskunft Ihrer Mitarbeitenden ist Lucy unbeständig in ihren Leistungen und hat Schwierigkeiten mit dem Clinical Reasoning, kennt aber ihre Grenzen und ist relativ zuverlässig. Sie beobachten das Gespräch und haben den Eindruck, dass es etwas konfus ist und zu viele irrelevante Details enthält. Andererseits zeigt Lucy viel Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, zuzuhören. Auf dem Beurteilungsformular werden Sie gebeten, Lucys Selbstständigkeit betreffend diese EPA zu beurteilen.
An diesem Punkt stellen sich drei Fragen: Wie beurteilen Sie Lucys Gesamtkompetenz? Wie begründen Sie Ihre Beurteilung? Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach Ihre Entscheidung beeinflusst?
Wie kann ich erkennen, dass die junge Ärztin oder der junge Arzt bereit ist, Aufgaben selbstständig durchzuführen?
© Usman Yousaf / Unsplash

Neue Paradigmen

In der Schweiz wurde für die Weiterbildung ein «kompetenzbasiertes» Modell» [1] eingeführt. Nach diesem Modell muss der Arzt beziehungsweise die Ärztin in Weiterbildung, um als kompetent anerkannt zu werden, die jeweiligen Kompetenzen explizit nachweisen. Dies beinhaltet eine klare Definition der auf einer bestimmten Weiterbildungsstufe erwarteten Fähigkeiten sowie die Einführung eines Systems zur Beurteilung der Kompetenzen in der Arbeitssituation. Für die Beschreibung der medizinischen Kompetenz werden klassischerweise zwei Elemente herangezogen:
Erst kürzlich wurde die Beschreibung der medizinischen Kompetenz um die «Entrustable Professional Activities» (EPA) ergänzt, die wir ins Deutsche übersetzen können als «anvertraubare professionelle Tätigkeiten». Eine EPA ist eine in sich abgeschlossene Tätigkeit, die einer Ärztin oder einem Arzt in Weiterbildung übertragen werden kann, wenn sie oder er die erforderlichen Fähigkeiten erworben hat, um diese Tätigkeit auszuführen [3].

Herausforderungen und Chancen

Bisher haben klinische Supervidierende in ihren Beurteilungsformularen quantitative Leistungsbewertungen vorgenommen. Mit der Einführung von EPAs werden wir hingegen dazu aufgefordert, qualitativ zu beurteilen, wie viel Selbstständigkeit wir der beobachteten Person bei der nächsten Ausübung der gleichen Aufgabe anvertrauen würden (Tabelle 1).
Tabelle 1: Die für jede EPA geltenden Stufen der Selbstständigkeit [4].
Stufe 1:Darf nur beobachten
Stufe 2:Darf unter direkter Supervision arbeiten: Die Supervisionsperson ist im Raum anwesend
Stufe 3:Darf unter indirekter Supervision arbeiten: Die Supervisionsperson ist innerhalb weniger Minuten verfügbar, wenn Hilfe benötigt wird
Stufe 4:Darf unter entfernter Supervision arbeiten
Stufe 5:Darf andere supervidieren
Es gibt zwei Situationen, in denen wir den zu gewährenden Grad an Selbstständigkeit einschätzen, die jeweils ganz unterschiedlichen Zwecken dienen [3]:
a) Die Ad-hoc-Evaluation (zum Beispiel durch Mini-CEX, DOPS) nach der Beobachtung einer bestimmten Aufgabe; ist durch den unmittelbaren Kontext begründet und basiert auf einer Mischung aus Einschätzung der Zuverlässigkeit, des Situationsrisikos, der Dringlichkeit und der Angemessenheit. Diese Bewertung ist häufig formativ.
b) Die summative Evaluation (zum Beispiel am Ende einer Weiterbildungsperiode), die beispielsweise von den Kaderärztinnen und -ärzten durchgeführt wird, zur Zertifizierung führt und auf möglichst vielen Ad-hoc-Evaluationen basiert.
EPAs sind intuitiv und enger als bisherige Konzepte an die Realität der klinischen Praxis angelehnt; trotzdem ist die formale Bewertung des Grades der Selbstständigkeit nicht trivial. Supervidierende sind sich einerseits bewusst, dass das zu frühe Anvertrauen von Tätigkeiten an Ärzte oder Ärztinnen in Weiterbildung negative Auswirkungen auf die Patientensicherheit haben kann [5]. Andererseits sind sie sich auch bewusst, dass übertriebene Vorsicht die Entwicklung der Selbstständigkeit und den Erwerb des erwarteten Kompetenzniveaus verzögert und sich negativ auf die Lernkurve auswirken kann [5].

Das Anvertrauen einer Aufgabe

Der Prozess des Anvertrauens vollzieht sich entlang eines «Vertrauenskontinuums». Dieses umfasst die drei Aspekte des auf Annahmen beruhenden Vertrauens, das sich auf Referenzen stützt (zum Beispiel Diplome, Ausbildungsniveau, Empfehlungen, Bewertungsformulare), das anfängliche Vertrauen, das auf ersten direkten Eindrücken beruht, und das begründete Vertrauen, das auf einer tieferen und längeren Zusammenarbeit mit dem Assistenzarzt oder der Assistenzärztin beruht [3, 4].
Fünf Faktoren beeinflussen den Vertrauensprozess (Abbildung 1) [5]:
Abbildung 1: Elemente, die bei der Vertrauensgewährung eine Rolle spielen [5]
Jedes dieser Elemente umfasst mehrere Faktoren (Tabelle 2). Der weiterzubildenden Person wird auf der Grundlage ihrer aufgabenspezifischen Vorerfahrung, ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen sowie ihrer Persönlichkeit (Zuverlässigkeit, Integrität, Bewusstsein der eigenen Grenzen und Bereitschaft, sich bei Bedarf Hilfe zu holen) Vertrauen entgegengebracht [6]. Eine wichtige Rolle spielt auch die Persönlichkeit der Supervisionsperson, ihr Vorwissen über die weiterzubildende Person, ihre Erfahrung als Supervisionsperson, der Grad der empfundenen Verantwortlichkeit und ihre Auffassung von der klinischen Ausbildung [6]. Die Art und Komplexität der Aufgabe selbst, der Patiententyp, der Kontext und die Umgebung, in der die Aufgabe ausgeführt werden muss, die Unterstützung seitens des Teams, die Tageszeit und das Risiko von Komplikationen sind weitere Faktoren, die dazu beitragen, dass jede Entscheidung hinsichtlich des Vertrauens sehr spezifisch und nicht unbedingt auf andere Aktivitäten oder Situationen übertragbar ist [6].
Tabelle 2: Spezifische Faktoren, die das Vertrauen beeinflussen [6]
SupervisionspersonArzt oder Ärztin in WeiterbildungBeziehung zwischen Supervisionsperson und Person in WeiterbildungKontextAufgabe
Klinische Kompetenz
Sachkenntnis betreffend die Beurteilung
Vertrautheit mit dem klinischen Kontext
Einstellungen und Vertrauensbereitschaft
Verantwortlichkeit
Kompetenz und Erfahrung
Einstellungen und Geisteshaltung
Scharfsinn
Selbstvertrauen
Fähigkeit, bei Bedarf um Hilfe zu bitten
Bildung von Beziehungen
Interferenz zwischen Beziehung und Bewertung
Geteilte Erwartungen
Dauer der Zusammenarbeit
Arbeitspensum
Zeitpunkt der Beobachtung
Kultur der Abteilung
Verfügbare Ausstattung und Infrastruktur
Eigenschaften des Umfelds
Komplexität der Aufgabe
Komplexität und Risiko für Patient/Patientin
Wenn uns die Entscheidung über das Niveau des Anvertrauens schwerfällt, können wir uns zur Einordnung einige Schlüsselfragen stellen:
1) Habe ich die Belege für die Kompetenz, Integrität, Zuverlässigkeit und Bereitschaft zur Anerkennung der eigenen Grenzen der Assistenzärztin oder des Assistenzarztes berücksichtigt?
2) Habe ich berücksichtigt, was gemäss Weiterbildungsprogramm bei der beobachteten Aufgabe erwartet wird (Spezifikationen und Grenzen in der Beschreibung der EPA)?
3) Habe ich genügend Informationen, um eine Vertrauensentscheidung zu treffen? [7]
Die Beantwortung dieser Fragen kann Supervisionspersonen helfen, spezifische Kommentare zu formulieren, die dem Assistenzarzt oder der Assistenzärztin helfen, Fortschritte zu machen. Idealerweise finden diese Vertrauensentscheidungen häufig und regelmässig während der Rotationen statt und nicht nur am Ende einer Ausbildungsperiode, wenn die summative Entscheidung getroffen wird.

Autonomie und Vertrauen stimulieren

Die Fachgesellschaften können den weiterzubildenden Personen und den Supervisionspersonen die Art und das Niveau der erwarteten Kompetenz transparent vermitteln und so den Prozess der Vertrauensgewährung fördern [6]. In Zusammenarbeit mit dem SIWF und/oder den Einheiten oder Experten für medizinische Ausbildung sollten die Fachgesellschaften für eine gute Ausbildung der Supervisionspersonen sorgen, sodass diese mit der klinischen Supervision, dem Feedback und der Evaluation ausreichend vertraut sind. Die klinischen Abteilungen sollten ihre Tätigkeit so strukturieren, dass die weiterzubildenden Ärztinnen und Ärzte beruflichen Tätigkeiten und Aufgaben ausgesetzt werden, die ihrem Ausbildungsstand entsprechen. Dabei sollte ihnen ein ausreichendes Mass an Supervision gewährt werden, das schrittweise reduziert wird. Weiterzubildende Personen müssen sich verpflichten, schrittweise Verantwortung zu übernehmen, die ihrem Kompetenzniveau entspricht und auf den bisherigen Erfahrungen aufbaut. Die am Arbeitsplatz herrschende Kultur sollte auch ein Klima fördern, in dem Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung ermutigt werden, sich um angemessene Unterstützung durch Supervisionspersonen zu bemühen.
Supervisionspersonen sollten den Assistenzärztinnen und -ärzten auch dabei helfen, Fortschritte bei der Selbstreflexion, der Selbsteinschätzung und dem lebenslangen Lernprozess zu machen. Schliesslich sollten die Längsschnittbeziehungen zwischen Weiterzubildenden und Supervisionspersonen gefördert werden, indem die Assistenzärztinnen und -ärzte bewusst in Rotationen eingesetzt werden, die eine wiederholte Supervision durch einige wenige vertrauenswürdige Supervisionspersonen erleichtern. So kann eine Beziehung des gegenseitigen Respekts aufgebaut werden. Die Umsetzung all dieser Strategien wird den klinischen Supervisionspersonen bei der Begleitung der Assistenzärztinnen und -ärzte helfen und den schrittweisen Ausbau der Selbstständigkeit erleichtern.

Fazit

Beim EPA-Konzept bewerten die Supervidierenden die Kompetenz eines Arztes oder einer Ärztin in Weiterbildung anhand des Grades an Supervision, der für die weiterzubildende Person notwendig wäre, wenn sie oder er dieselbe Aufgabe zukünftig («morgen») ausführen soll. Dieser Prozess des Anvertrauens wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst: der Persönlichkeit der weiterzubildenden Person, der Persönlichkeit der Supervisionsperson, der Art und Komplexität der zu erfüllenden Aufgabe sowie dem Arbeitsumfeld. Die Aufnahme von EPAs in die Weiterbildungsprogramme muss mit einer angemessenen Schulung des gesamten Weiterbildungspersonals einhergehen, damit diese Faktoren adäquat berücksichtigt werden und in konstruktive Kommentare für die weiterzubildenden Personen einfliessen kann.
Dr. med. Nadia Bajwa
MHPE, PhD, Fachärztin für Pädiatrie, Leitende Ärztin in der Abteilung für allgemeine Pädiatrie am Universitätsspital Genf (HUG)
Prof. Dr. med. Raphaël Bonvin, MME
Inhaber des Lehrstuhls für Medizinische Hochschuldidaktik und Vizepräsident Lehre der Abteilung Medizin an der Universität Freiburg
Matteo Monti
MME, Facharzt für Innere Medizin. Leitender Arzt, Maître d’enseignement et recherche clinique (MERc) in der Abteilung für Innere Medizin am CHUV
1 ten Cate O, Scheele F. Competency-based postgraduate training: can we bridge the gap between theory and clinical practice? Acad Med. 2007;82(6):542-7.
2 Frank J, Snell L, Sherbino J, Editors. CanMEDS 2015 Physician Competency Framework. Ottawa: Royal College of Physicians and Surgeons of Canada; 2015.
3 ten Cate O, Hart D, Ankel F, Busari J, Englander R, Glasgow N, et al. Entrustment Decision Making in Clinical Training. Acad Med. 2016;91(2):191-8.
4 Tekian A, Ten Cate O, Holmboe E, Roberts T, Norcini J. Entrustment decisions: Implications for curriculum development and assessment. Med Teach. 2020;42(6):698-704.
5 Sterkenburg A, Barach P, Kalkman C, Gielen M, ten Cate O. When Do Supervising Physicians Decide to Entrust Residents With Unsupervised Tasks? Acad Med. 2010;85(9):1408-17.
6 Hauer KE, Ten Cate O, Boscardin C, Irby DM, Iobst W, O’Sullivan PS. Understanding trust as an essential element of trainee supervision and learning in the workplace. Adv Health Sci Educ. 2013.
7 Peters H, Holzhausen Y, Boscardin C, ten Cate O, Chen HC. Twelve tips for the implementation of EPAs for assessment and entrustment decisions. Med Teach. 2017;39(8):802-7.